Ministerpräsident Kretschmann antwortet auf die Kritik von 36 OBM und Bürgermeistern am „Lockdown light“. OBM Palmer mit „Tübinger Appell“.

In einem Antwortschreiben an die Oberbürgermeister und Bürgermeister, die Teile der Entscheidung für den „Lockdown light“ kritisieren, zeigt sich der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann „verwundert“ über deren „Ansinnen, dass ausgerechnet Baden-Württemberg als eines der stärker betroffenen Länder von der Umsetzung der einmütigen Beschlüsse abweichen soll“. In seiner unmittelbaren Antwort vom Freitag auf den offenen Brief der Stadtlenker vom Donnerstag fordert der Ministerpräsident im Kampf gegen die Coronakrise einen „engen Schulterschluss“ mit den Akteuren vor Ort. Nur so könne es eine breite Akzeptanz für die Maßnahmen in der jeweiligen Stadtgesellschaft geben.

„Hotspotstrategie funktioniert nicht, wenn ganzes Land Hotspot ist“

Die Oberbürgermeister und Bürgermeister hatten den Ministerpräsidenten um eine lockerere Anwendung der am Mittwoch vom Bund und den Ländern festgelegten Regeln des „Lockdown light“ in Baden-Württemberg gebeten. Diese Bitte weist Kretschmann zurück. Die Lage sei „sehr ernst“. Der Pakt zwischen Bund und Ländern sei eine „gewaltige kollektive Kraftanstrengung, um gemeinsam eine akute nationale Gesundheitsnotlage abzuwenden“. Die Entscheidung sei trotz des unterschiedlichen Infektionsgeschehens in den jeweiligen Bundesländern „schnell, klar und einheitlich“ gefallen. Auch der baden-württembergische Landtag habe am Freitag die Maßnahmen unterstützt.

„Ihre Sorge um den Lebensgeist unserer Gesellschaft teile ich vollumfänglich“, schreibt Kretschmann in seiner Antwort an die Oberbürgermeister und Bürgermeister. Doch das Infektionsgeschehen im Land mache neue Restriktionen erforderlich. In den vergangenen drei Wochen sei die Zahl von Neuinfektionen in sieben Tagen pro 100.000 Einwohner von 15 auf über 100 angewachsen. „Eine Hotspotstrategie funktioniert nicht, wenn das ganze Land selbst ein Hotspot ist, weil sich das Virus in alle Regionen stark verbreitet hat.“

Der „Lockdown light“ sei so ausgerichtet, dass bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens wie die Bildung und Betreuung der Kinder bewusst offen blieben. Dort, wo es zu Schließungen komme, stelle der Bund Entschädigungen in Aussicht. „Für mich steht völlig außer Frage, dass das Gesamtinteresse in so einer Jahrhundertnotlage ganz vorne stehen muss“, schreibt Kretschmann.

Palmer schwenkt um: „einen Schritt weiter gehen“

In einer ersten Reaktion via Facebook zeigt OBM Boris Palmer aus Tübingen, ein Initiator des Schreibens an den Ministerpräsidenten, Verständnis für dessen Position. Er fände es „richtig und wichtig“, die Entscheidung zu diskutieren, sie aber auch zu akzeptieren, „wenn sie demokratisch legitimiert ist“. Der Landtag habe die Linie der Regierung bestätigt. „Das respektiere ich, und ab Montag sind wir alle aufgerufen, uns daran zu halten.“

Am Sonntag formulierte Palmer gemeinsam mit der Stadtspitze, der lokalen DRK-Präsidentin und dem leitenden ärztlichen Direktor am örtlichen Universitätsklinikum einen „Tübinger Appell“ an die Bevölkerung. Darin fordert er sogar über den „Lockdown light“ hinaus die Menschen dazu auf, „einen Schritt weiter zu gehen“ und zusätzliches Engagement sowie „Bürgersinn und Verantwortung“ zu zeigen.

„Tübinger Appell“: Lockdown könnte über November hinaus andauern

„Die vom Bund und Ländern angeordneten Verbote und Eingriffe in das Leben aller sind eine schwere Bürde“, heißt es im „Tübinger Appell“. Zwar sei nicht jede der Maßnahmen selbsterklärend, das Ziel der Kontaktreduktion sei aber klar. Allerdings blieben nun sehr viel mehr Kontakte erhalten als beim ersten Lockdown. Angesichts der aktuellen Dynamik des Infektionsgeschehens bezweifelt Palmer daher die Effektivität der Maßnahmen. „Es ist daher zu befürchten, dass die Maßnahmen weit über den November hinaus verlängert und sogar verschärft werden müssen.“

Der „Tübinger Appell“ fordert die Bevölkerung unter anderem dazu auf, die Notwendigkeit jedes einzelnen Kontakts zu überprüfen, die Corona-Warn-App des Bundes zu nutzen und definiert zusätzliche Regeln zum Schutz der Risikogruppe älterer Menschen.

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