Die Coronakrise bedroht die Kultur- und Veranstaltungsbranche. Wie OBM und Städte dieser helfen können, erklärt Branchenkenner Timo Holstein.

Abgesagte Konzerte, Events oder Messen: Die Kultur- und Veranstaltungsbranche ist eine der besonders gebeutelten in der Coronakrise. Wie können Städte und OBM helfen? Indem sie bei eigenen Veranstaltungen konsequent auf Profis setzen und die jeweilige Wertschöpfungskette im Blick behalten, sagt der Brancheninsider Timo Holstein.

„Ich habe den Eindruck, dass unsere Branche nicht verstanden wird“

OBM: Herr Holstein, die Frage mag ketzerisch klingen, doch wie ist die Lage für die Kultur- und Veranstaltungswirtschaft?

Timo Holstein: Dramatisch. Existenzbedrohend. Und für viele schon existenzvernichtend. Der zweite Lockdown, der „Lockdown light“, hat uns die wenigen Veranstaltungen und Jobs, die es noch gab, auch noch um die Ohren fliegen lassen. Das Gro der Veranstaltungsbranche hat derzeit Finanzausfälle in der Größenordnung von 90 Prozent zu verkraften und verliert dadurch seine Zukunftsperspektive. Bei aller Solidarität, die wir zurecht gegenüber Kitas, Schulen und prinzipiell den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie aufbringen, vermisse ich diese Solidarität mit unserer Branche. Übrigens eine Branche, die nachweislich gerade nicht zu den Infektionstreibern zählt.

OBM: Der Bund hat aber in Aussicht gestellt, die vom „Lockdown light“ Betroffenen zu unterstützen und 75 Prozent ihrer Ausfälle verglichen mit dem Vorjahresmonat beziehungsweise einem durchschnittlichen Monat zu kompensieren.

Timo Holstein: Das ist richtig. Doch um die genauen Modalitäten wird noch immer gerungen. Es geht auch um die Frage: Wer kann tatsächlich an der Kompensationsregel partizipieren? In vielen Diskussionen habe ich den Eindruck gewonnen, dass unsere Branche weder von kommunalen Politikern noch von Entscheidern auf Landes- oder Bundesebene verstanden wird.

„Der Branche gehen wichtige Strukturen verloren“

OBM: Wie meinen Sie das?

Timo Holstein: Wenn Politiker den Etat für ein Staatsorchester anheben, ein Programmkino unterstützen oder das Defizit eines Museums ausgleichen, wird das vielerorts als Rettungsmaßnahme für die Kultur in der Krise begriffen. Ich möchte das nicht in Abrede stellen, jedoch werden so nur einzelne Player gefördert, aber mitnichten das Kultur- oder Veranstaltungswesen in Gänze. Meist handelt es sich dabei um ohnehin subventionierte Betriebe. Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist aber viel mehr. Sie geht auch weit über die Berufsgruppe der Künstler hinaus: Es geht um Klubs, Ticketanbieter, Veranstaltungstechniker, Tourneebegleiter. Oder um Agenturen, die täglich damit beschäftigt sind, Kulturtermine, auch Businessevents, Corporateshows oder Messen zu planen und teils einzig von den Vermittlungsprovisionen leben. Nicht nur, dass letztere massive Einbrüche erleiden, sie müssen auch die dreifache Arbeit erledigen: Es ist nicht selten, dass Termine wegen des ersten Lockdowns aus dem Frühjahr in den Herbst geschoben wurden und nun abermals umgebucht werden müssen.

OBM: Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Timo Holstein: An einer Band wie „Glasperlenspiel“ hängt eine zweistellige Mitarbeiterzahl. Es geht auf diesem Niveau in einer gut gebuchten Sommersaison um entgangene Gagen im siebenstelligen Bereich. Die Künstler der A-Liga kommen wohl noch durch die Krise, wenn auch mit massiven Einbußen. Doch für die Musiker, die etwa in der begleitenden Tourband spielen, nun nicht mehr auf der Bühne stehen und teils nicht einmal mehr unterrichten dürfen, stellt sich die Existenzfrage. Es gibt den Trucker, der den Tourneesattelschlepper fuhr, doch jetzt notgedrungen wieder in seinem alten Beruf als Handwerker arbeitet. Oder den Gitarrenstimmer und Roadie, der als zweites Standbein unlängst ein Cafe eröffnet hatte – das aber im „Lockdown light“ ebenfalls geschlossen wurde. Hier gehen der Branche wichtige Strukturen verloren.

Was OBM tun können: 1. Spielstätten pandemiegerecht umrüsten

OBM: Was kann denn ein Oberbürgermeister, was kann eine Kommune tun, um die Kultur- und Veranstaltungsbranche in der Krise zu fördern?

Timo Holstein: Die Kommunen können ihre Spielstätten pandemiegerecht umrüsten. Das kann teils mit überschaubarem Aufwand geschehen. Es geht um eine adäquate Wegeführung, um Belüftungsanlagen sowie um konzeptionelle Erwägungen wie die Maskenpflicht, das Fiebermessen an Eingängen, ein entsprechendes Catering mit Flaschen statt Gläsern oder den Verzicht auf Pausen, in denen sich das Publikum durchmischt. Zweitens sollten sie an Profis denken, wenn sie veranstalten – sowohl an die Künstler als auch an die technischen Gewerke. Es ist schlimm genug, wenn Chöre nicht auftreten können, und es mag gesellschaftspolitisch nachvollziehbar sein, dem Laienchor ein Forum zu eröffnen. Dies hat mit Kulturförderung im Sinne der professionellen Kultur- und Veranstaltungsbranche aber nichts zu tun.

Was OBM tun können: 2. Mit Profis veranstalten

OBM: Eine Kommune kann ja nicht Schlagzeuger beschäftigen und ist auch nicht zuständig für Entscheidungen über Bundeshilfen.

Timo Holstein: Nein. Aber wenn wieder veranstaltet werden darf, sollte sie auf Profis zurückgreifen – und im Sinne der regionalen Wertschöpfung und Wirtschaftsförderung handelt es sich dabei bestenfalls um Akteure aus der eigenen Region. Wenn Stadtfeste oder Märkte stattfinden, sollten Kommunen professionelle Technikfirmen, die auch im Kampf gegen die Pandemie für Qualitätsstandards einstehen, zurate ziehen. Übrigens waren es gerade professionelle Veranstalter, die in der Coronakrise in vielen Städten kulturelle Impulse gesetzt und mit kreativen Ideen vor Ort die Kulturarbeit überhaupt am Leben gehalten haben. Beispielsweise war für die große Videowand in Worms, die zum Autokino und zur Livemusikbühne wurde, nicht die Stadt initial, sondern ein privater Veranstalter und Risikoträger.

Was OBM tun können: 3. Die „Freien“ nicht vergessen

OBM: In einzelnen Kommunen gibt es Rettungsschirme für die Kultur, …

Timo Holstein: … die sich aber bisweilen an die institutionalisierte und ohnehin subventionierte Kultur, an Vereine und Organisationen richten. Davon kommt bei den Künstlern, in der freien Szene und in der Veranstaltungswirtschaft dann nichts oder nur wenig an. Natürlich spricht nichts dagegen, ein subventioniertes Museum, ein Konzerthaus, ein Orchester, das Vereinswesen oder die ehrenamtliche Laienspielgruppe in der Krise zu unterstützen. Dabei dürfen aber bitte die Profis, die ein Rückgrat der Kulturlandschaft sind und von denen sich viele grundsätzlich ohne Subventionen engagieren, nicht vergessen werden. Die Kulturförderung sollte die Wurzeln professionellen kulturellen Engagements – Künstler und Veranstalter – nicht übersehen.

Was OBM tun können: 4. Wertschöpfungsketten im Blick halten

OBM: Dass bisweilen von Kommune zu Kommune im Kampf gegen Corona unterschiedliche Regeln gelten, macht die Sache der Branche nicht einfacher, oder?

Timo Holstein: Der föderale Flickenteppich ist tatsächlich ein großes Problem für die Branche. Das betrifft nicht nur Kommunen, sondern auch die Bundesländer. Meine Erfahrungen von über 60 bundesweiten Stornos des Sommers bezüglich der von mir betreuten Michael Schulte und „Glasperlenspiel“ in allen Bundesländern sprechen da Bände. Baden-Württemberg ist da als Positivbeispiel zu nennen, wo im Zusammenhang mit den Fördertöpfen des Landes bei der Absage von Veranstaltungen auch Quoten für Bühnenbauer, Technikfirmen und Künstler gefordert wurden. Ministerpräsident Winfried Kretschmann formulierte zu Beginn der Pandemie seine Erwartung, dass Veranstalter und Kommunen, die als Veranstalter auftreten, für coronabedingte Absagen eigens zur Verfügung gestellte Fördermittel abrufen und davon auch Gelder den Dienstleistern in der Wertschöpfungskette einer Veranstaltung zukommen lassen, zumindest in Teilquoten. Damit hebt sich Kretschmann von anderen Landesvätern und -müttern deutlich ab und passt in das Bild der Grünen auf Bundesebene, die ähnliche Debattenbeiträge wie die zum Unternehmerlohn liefern. In anderen Bundesländern herrschte hingegen ganz schnell ein Phänomen des „Sichdavonstehlens“. Dass auch Versicherungen nicht mehr griffen und künftig nicht greifen werden, bleibt da nur eine Randnotiz.

Damit keine Trabantenstädte übrig bleiben

„Wenn wieder veranstaltet werden darf, sollten sie auf Profis zurückgreifen“, rät Timo Holstein den Kommunen in Sachen Kulturförderung. (Quelle: eigenartevents.com)

„Wenn wieder veranstaltet werden darf, sollten sie auf Profis zurückgreifen“, rät Timo Holstein den Kommunen in Sachen Kulturförderung. (Quelle: eigenartevents.com)

OBM: In Dortmund hat OBM Thomas Westphal zuletzt in einem Schreiben an Bundesfinanzminister Olaf Scholz auf eine schnelle Hilfe der vom „Lockdown light“ Betroffenen gedrängt. Gleichzeitig weist er auf die Bedrohung der Städte durch Einbrüche in der Kultur- und Veranstaltungswirtschaft sowie der Gastronomie hin. Das liegt auf Ihrer Linie?

Timo Holstein: Absolut richtig. Wenn Kultur, Kunst, Ausgehen und Erlebniswelten wegbrechen, verlieren Städte an Lebensqualität. Das gilt im Übrigen gleichsam für Sportstätten und -angebote, genauso wie für die Gastronomie und den Einzelhandel, wenn letzterer auch nur bedingt vom „Lockdown light“ betroffen ist. Denkt man all dies weg, bleiben Trabantenstädte übrig. Gerade am Beispiel der mit rund 8.000 Einwohnern kleinen Kreisstadt Kichheimbolanden zeigt sich, wie essentiell Kultur ist. Die Stadt hat sich in den vergangenen Jahren mit mannigfaltigen Programmen zu einem kulturellen Nukleus der Region entwickelt. Das ist für die Stadt nicht nur Profilmerkmal, sondern auch ein Magnet für Gastronomie und Einzelhandel. Im Augenblick findet hier nichts mehr statt. Die gerade neun Jahre alte Stadthalle, eine der wichtigen Spielstätten, dient dem Stadtrat nun als Sitzungssaal, weil hier Mindestabstände besser eingehalten werden können.

Info: Runder Tisch der Veranstaltungswirtschaft Rheinhessen/Pfalz

Timo Holstein tourte bundesweit als Bassist und Frontmann in diversen Bands, unter anderem in den Formationen „Snailshouse“ und „Menschenskinder“. Im pfälzischen Kirchheimbolanden betreibt er eine eigene Eventagentur. Als Manager betreut er nationale Spitzenacts wie „Glasperlenspiel“ oder Michael Schulte. Mit seiner Veranstaltungsagentur koordiniert er außerdem die Kulturarbeit seiner Heimatstadt Kirchheimbolanden und berät weitere Kommunen bei der Gestaltung ihrer Kulturprogramme oder einzelner Events.

Als Sprecher des in der Coronakrise neu gegründeten Runden Tischs der Veranstaltungswirtschaft Rheinhessen/Pfalz vertritt er die Branche gegenüber der Politik. Zu den Kernforderungen des Runden Tischs zählen unter anderem die Verlängerung und die Ausweitung der Hilfsprogramme für die Akteure der Branche. Außerdem fordert er anstelle pauschaler Kriterien konzeptionelle, an die jeweilige Spielstätte anzupassende Hygienelösungen für die Durchführung von Veranstaltungen während der Pandemie. Eine Forderung zielt auch auf eine Ausfallversicherung oder Bürgschaften für pandemiebedingte Veranstaltungsabsagen ab, um eine Planungssicherheit für Veranstalter und Kulturschaffende zu gewährleisten. Dabei verweist der Runde Tisch darauf, dass die Veranstaltungs- und Kreativwirtschaft derzeit durch die Untersagung ihres Kernbetriebs einen Sonderdienst für die Gesellschaft erbringt und fordert daher Solidarität ein.

Das Foto oben zeigt Holstein (links) mit dem Sänger Max Giesinger bei einer Veranstaltung in Kirchheimbolanden.

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