Die Stadt Görlitz und ihre polnische Nachbarstadt Zgorzelec sind eng miteinander verflochten. Vor 25 Jahren gründeten sie die gemeinsame „Zwillingsstadt“. Dies feierten beide Städte am 13. Mai mit einem großen Bürgerfest diesseits und jenseits der Neiße. Die Zusammenarbeit beider Kommunen reicht von der Abstimmung hinsichtlich ihrer Stadtentwicklung bis hin zu gemeinsamen Infrastrukturprojekten wie dem grenzüberschreitenden Ausbau des ÖPNV oder dem Aufbau eines Wärmenetzes zur Dekarbonisierung der Wärmeversorgung. Über das 25-jährige Jubiläum der Zwillingsstadt, die Perspektiven, die in der Zusammenarbeit liegen, bürokratische Hemmnisse und darüber, was Europa von Görlitz/Zgorzelec lernen kann, spricht Octavian Ursu, Oberbürgermeister von Görlitz, mit #stadtvonmorgen.
Vernetzter ÖPNV: Erfolg durch Städtekooperation
#stadtvonmorgen: Herr Ursu, vor 25 Jahren wurde die Zwillingsstadt gründet. Warum? Welche Idee steckt hinter der Zusammenarbeit?
Octavian Ursu: Das hat in erster Linie historische Gründe. Beide Städte waren einmal eine. Der Zweite Weltkrieg und die politischen Umstände ließen sie jedoch auseinandertriften. Jahrzehntelang war eine enge Kooperation nicht möglich. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Deutschen Wiedervereinigung 1990 sowie dem Beitritt Polens zur EU 2004 änderten sich die Rahmenbedingungen. Beide Städte nutzten die neuen Möglichkeiten. Anfänglich war das Engagement zur Vernetzung eher zaghaft und auf der Ebene der Symbolpolitik. Doch mit jedem Austausch, mit jedem Projekt und mit jeder praktischen Umsetzung der gemeinsamen Idee sind die Städte mehr und mehr zusammengewachsen.
#stadtvonmorgen: Wie sind beide Städte in der Alltagswelt denn konkret miteinander verflochten? Wo wird die „Europastadt“, wie sich die Zwillingsstadt auch nennt, erlebbar?
Octavian Ursu: Da gibt es zahlreiche kulturelle Initiativen, familiäre Verbindungen und gesellschaftlichen Austausch. Dann gibt es das Bewerben um europäische Fördermittel bei gemeinsamen Projekten. Ich denke aber auch an wichtige Infrastrukturprojekte. Zum Beispiel haben wir eine gemeinsame ÖPNV-Linie und das „Europastadtticket“ für Fahrten diesseits und jenseits der Neiße. Das klingt nach Normalität. Die Mischung zwischen dem deutschen Ticketsystem im Regionalverkehr und einer internationalen Gültigkeit ist aber eine große Besonderheit. Mit dem Europastadtticket kann man nicht nur die gemeinsame Linie benutzen, sondern auch in das ÖPNV-System der jeweils anderen Stadt umsteigen. Dass dies möglich ist, ist nicht nur eine enorme Erleichterung für Pendler im Alltag, sondern auch ein großer Erfolg der Städtekooperation.
Klimaneutrale Fernwärmeversorgung in der Zwillingsstadt
#stadtvonmorgen: Was tun sie städtebaulich?
Octavian Ursu: Wir kümmern uns um das Zusammenwachsen der Stadt. Wenn wir auf beiden Seiten der Neiße etwa Parks oder Spielplätze entwickeln, stimmen wir uns städtebaulich ab. Ein weiteres großes Infrastrukturprojekt ist, eine klimaneutrale Fernwärmeversorgung für beide Städte zu organisieren. Daran arbeiten wir mit Hochdruck. Beide Stadtwerke sind involviert. Doch wir arbeiten nicht nur zusammen an der Zukunft unserer gemeinsamen Stadt, sondern wir feiern auch zusammen. Mein nächster Termin nach diesem Interview führt mich beispielsweise zu einer Gedenkveranstaltung im Zeichen des polnischen Nationalfeiertags, dem Tag der Verfassung. (Anmerkung: Das Interview fand am 3. Mai statt.) Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass die Bürgermeister an den wichtigen Ereignissen der jeweils anderen Stadt teilnehmen.

Octavian Ursu (Quelle: Stadt Görlitz)
#stadtvonmorgen: Sie haben es eingangs erwähnt: Es gab Zeiten, in denen politische Umstände eine Städtekooperation erschwerten oder gar unmöglich machten. Wie stabil ist denn die Zwillingsstadt angesichts möglicher nationaler Verwerfungen?
Octavian Ursu: Ich verstehe die Frage, doch für uns vor Ort ist die Wahrnehmung eine andere. Unsere Zusammenarbeit kommt auf natürliche Art und Weise zustande, sie ist „von unten“ gewachsen, unabhängig von der „großen Politik“. Insofern betreffen uns auf der lokalen Ebene wechselnde politische Richtungen oder Unstimmigkeiten auf der nationalen Ebene zu einzelnen Themen nicht. Wenn die Stadträte von Görlitz und Zgorzelec Ende Mai zu ihrer nächsten gemeinsamen Sitzung zusammenkommen, geht es um konkrete Projekte und darum, wie die Probleme der Menschen vor Ort gelöst werden können. Wir lassen uns nicht von Berlin oder Warschau beeindrucken: In den vergangenen 25 Jahren hat sich die „politische Großwetterlage“ immer wieder geändert, doch wir sind ungeachtet dessen immer weiter zusammengewachsen.
„Die Zwillingsstadt ist zusammengewachsen“
#stadtvonmorgen: Welche Zukunftsperspektiven ergibt denn die grenzüberschreitende Zusammenarbeit? Was geht gemeinsam besser als allein?
Octavian Ursu: Wir haben gelernt, wechselseitig die besten Möglichkeiten zu nutzen, beispielsweise was Fördermittel betrifft. Doch insbesondere in Krisensituationen zeigt sich der Wert unserer Zusammenarbeit. Ich erinnere an die Pandemie, als zunehmende Grenzkontrollen zu großen Staus führten und diejenigen, die in den Staus festsaßen, versorgt werden mussten. Wir haben beide unsere Möglichkeiten nicht nur genutzt, um vor Ort konkret zu helfen, sondern auch, um politische Hebel in Dresden und Berlin sowie Breslau und Warschau in Bewegung zu setzen. Indem beide Städte geschlossen auftraten, kam es schneller zu einer Problemlösung. Ein zweites Beispiel dafür, wie wir eng zusammenwirken, ist der Ukrainekonflikt: Als Grenzstadt und damit als „Drehscheibe“ war Görlitz/Zgorzelec von der ersten Flüchtlingswelle besonders früh und stark betroffen. Ein deutsch-polnisches Krisenteam hat die Lage bewältigt und etwa für Übernachtungsmöglichkeiten gesorgt. Das funktioniert nur, weil die Strukturen der Zusammenarbeit im Alltag eingeübt sind, wir uns kennen und die Wege kurz sind.
#stadtvonmorgen: Was kann denn Europa, das um ein Zusammenwachsen bemüht ist, von der selbstverständlichen Zusammenarbeit in der Zwillingsstadt lernen?
Octavian Ursu: In erster Linie kann man von Görlitz/Zgorzelec ableiten, dass die Menschen überall gleiche oder ähnliche Probleme haben. Und dass es besser ist, bei der Problemlösung Synergieeffekte zu nutzen, als nebeneinanderher daran zu arbeiten. Dies gilt besonders in Grenzgebieten. Denn nicht nur in Krisenzeiten profitieren wir von der gewachsenen Kooperation, sondern auch im Alltag. Wenn es beispielsweise um Unternehmensansiedlungen oder um die Gesundheitsversorgung der Menschen geht, stimmen wir uns ab. Das macht uns stark. Das macht Europa stark. Während der Pandemie, als die Landesgrenzen weniger durchlässig waren als gewohnt, haben wir gemerkt, wie verbunden und vernetzt wir längst miteinander sind. Die Zwillingsstadt ist zusammengewachsen, mit geschlossenen Grenzen funktioniert es nicht mehr. Das ist als positive Erfahrung aus der Coronakrise festzuhalten – auch für Europa.

Sonnenaufgang in der Europastadt Görlitz/Zgorzelec (Quelle: Stadt Görlitz/Felix Leda)
Pragmatische Lösungen statt Bürokratie
#stadtvonmorgen: Sie haben tiefgreifende Infrastrukturprojekte wie den gemeinsamen ÖPNV oder die klimaneutrale Wärmeversorgung der Zwillingsstadt angesprochen. Solche Vorhaben sind im nationalen Rahmen schon hochkomplex. Sie hingegen müssen sich in die Gesetzgebung zweier Länder einordnen. Klappt das? Oder kämpfen Sie gegen hohe bürokratische Hürden?
Octavian Ursu: Das ist unser Hauptthema. Bei der schnellen Umsetzung gemeinsamer Vorhaben hindern uns am meisten die Unterschiede in der Gesetzgebung beider Länder. Dabei fehlt auch innerhalb der EU manches, um Prozesse zu harmonisieren. Ich wünsche mir von der nationale und der europäischen Ebene, dass wir einen größeren Freiraum bekommen und weniger Bürokratie. Oft leidet die Idee des europäischen Zusammenwachsens nicht unter ausbleibendem Engagement vor Ort, sondern unter der Gesetzgebung.
#stadtvonmorgen: Können Sie Beispiele nennen?
Octavian Ursu: Die grenzüberschreitende Vernetzung des ÖPNV war ein extrem dickes Brett, das wir gebohrt haben. Dabei ist die grundsätzliche Notwendigkeit doch unbestritten: Es leuchtet jedem ein, dass ÖPNV-Verbindungen in einem eng verflochtenen urbanen Raum sinnvoll sind. So gibt es in vielen Bereichen nationale Regeln und unterschiedliche Standards, die eine selbstverständliche, pragmatische Zusammenarbeit behindern. Dies gilt beispielsweise im Gesundheitsbereich und bei der Patientenversorgung – oder beim Besuch von Schulen. In der Zwillingsstadt ist es eine Selbstverständlichkeit, dass hier deutsch-polnische Familien leben. Die einen wohnen auf der deutschen Seite der Neiße und wollen, dass ihre Kinder eine polnische Schule besuchen, bei den anderen ist es umgekehrt. Meist finden sich für solche Fälle Lösungen, doch oft ist die Organisation eines wechselseitigen Schulbesuchs kompliziert. Eine Vereinfachung wäre dringend geboten.
Die Vision, dass es nur einen Bürgermeister gibt
#stadtvonmorgen: Welches sind denn Entwicklungsschritte der Zwillingsstadt in die Zukunft?
Octavian Ursu: Wie versuchen ständig, Hürden zu überwinden und weiter zusammenzuwachsen. Die Vision der Zusammenarbeit ist, dass in der Zwillingsstadt Doppelstrukturen abgebaut werden und irgendwann einmal nicht zwei Bürgermeister, sondern einer die Verantwortung trägt. Das ist eine ferne Vision. Doch im Alltag fließt immer mehr zusammen: Lokalpolitisch beschäftigen wir uns mit gleichen Themen. Das verlangt geradezu eine gemeinsame Struktur.
#stadtvonmorgen: Von der Vision einer gemeinsamen Stadtverwaltung abgesehen, welches sind denn greifbare Stadtentwicklungsprojekte?
Octavian Ursu: Den Ausbau der Fernwärmeversorgung habe ich schon angesprochen. Ein zweites Vorhaben ist, dass wir gerne eine zweite Verkehrsbrücke über die Neiße bauen würden. Doch hier gibt es einen großen Abstimmungsbedarf, was das bilaterale Verhältnis zwischen Deutschland und Polen betrifft. Dabei ist unser Anliegen klar: Zum Ausbau der wirtschaftlichen Beziehungen und, um dem Verkehrsaufkommen gerecht zu werden, ist eine Brücke einfach notwendig.