Die große Mehrzahl europäischer Gesetzgebung wird lokal implementiert – doch ein Mitspracherecht im legislativen Prozess haben Kommunen nicht. Und das, obwohl die Kommunen von den Auswirkungen europäischer Gesetze betroffen sind und sie ausführen. Diese Diskrepanz war initial für die Vernetzung europäischer Städte. Gemeinsam wollen sie ihrer Position mehr Sichtbarkeit und Nachdruck verleihen. Das ist ein Grundgedanke der europäischen Vernetzung.
Die Stadt Frankfurt am Main (Foto oben) war 1986 Gründungsmitglied des Städtenetzwerks Eurocities, der gemeinsamen Stimme von Europas Großstädten. Es folgten weitere Initiativen und thematisch spezialisierte Städtenetzwerke zu Themen wie Klimaschutz, Stadtverkehr, Innovation, Energie, Umwelt, Kultur oder Gesundheit. Einen institutionalisierten Ausdruck findet die Stimme einiger weniger Städte im Reigen der europäischen Institutionen im Ausschuss der Regionen, der 1994 gegründet wurde.
Warum europäische Vernetzung? – Drei Gründe
Egal, ob innerhalb und außerhalb formaler Netzwerke – Städte nutzen die europäische Ebene heute auf vielfältige Weise zu ihrem Vorteil. Im Kern besteht dieser aus drei Aspekten.
1. An den Erfahrungen anderer teilhaben
Wie will die Stadt Leeds es schaffen, bis 2030 klimaneutral zu sein, und wie viele Bäume kann eine Stadt pflanzen? Wie durchbricht Rotterdam die Henne-Ei-Situation im Hinblick auf Ladestationen für E-Fahrzeuge? Wie hat Stockholm Akzeptanz für die Citymaut geschaffen, und welche Probleme tauchten auf? Manche Maßnahmen, die in Deutschland noch Zukunftsmusik sind, sind anderswo bereits üblich – oder umgekehrt.
Von den Erfahrungen anderer Städte mit neuen Lösungsansätzen können Kommunen auch profitieren, wenn sie nicht in deren unmittelbaren Nachbarschaft liegen. In Arbeitsgruppen der Städtenetzwerke oder EU-Projekten lernen Mitarbeitende der kommunalen Verwaltung einander kennen, fragen gezielt nach, geben Rückmeldung und nehmen Anregungen aus den innovativsten Städten Europas mit nach Hause. So erfuhr beispielsweise die Stadt Dublin auf einem Arbeitsgruppentreffen des Polis-Netzwerks von der niederländischen Lösung zur Entwicklung von Verkehrslenkungsstrategien. Daraufhin erfolgte eine Einladung der Kollegen zu einem Workshop nach Irland, wo die Verwaltung mit Hilfe der niederländischen Methode ein neues Verkehrsmanagement erarbeitete.
2. Von europäischen Forschungsprojekten profitieren
Die Forschungsförderung der Europäischen Union steht auch Kommunen offen. Programme wie „Horizont Europa“ fördern Projekte, in denen Konsortien aus Forschung, Wirtschaft und Verwaltung aus verschiedenen Ländern zusammenarbeiten. Städte und Regionen wenden die Forschungsergebnisse an. Sie setzen als Projektpartner Pilotprojekte um oder diskutieren als Mitglieder von Expertengruppen Studienergebnisse und daraus abgeleitete Empfehlungen.
Über die Mitarbeit am EU-Projekt „Ch4llenge“ hat beispielsweise die Stadt Dresden zusätzliche Ressourcen für die Arbeit an ihrem Verkehrsentwicklungsplan generiert. Barcelona hat sich mit Hilfe von EU-Projekten zu einer Vorreiterstadt im urbanen Lieferverkehr etabliert, nachdem es zuvor über ein Jahrzehnt an besserer Organisation, Nachtlieferung, leiseren Elektro-Fahrzeugen und reservierbaren Ladestationen gearbeitet hatte. Neben finanziellen und personellen Ressourcen ermöglichen viele EU-Projekte Kommunen einen Rahmen, um innovative Lösungen ausprobieren zu können.
3. Europäische Gesetzgebung und Fördermittel steuern
Über Städtenetzwerke kommunizieren Kommunen mit geeinter Stimme ihre Bedarfe, Herausforderungen und Grenzen – zum Beispiel, wenn an neuen Gesetzen, Richtlinien oder Förderprogrammen gearbeitet wird. Auf Initiative Londons haben sich Städte mit überdurchschnittlich vielen Verkehrstoten durch LKW-Unfälle dafür eingesetzt, dass LKW und Busse in Zukunft mit mehr Rundumsicht („direct vision“) gebaut werden, um für den europäischen Markt zugelassen zu werden.
Kommunen regen zudem Förderschwerpunkte für kommunal wichtige Themen an. Etwa äußerten zahlreiche europäische Städte im Kontext von Luftverschmutzung und Klimaschutz den Bedarf, an Fragen der Zugangsbeschränkungen für Fahrzeuge (Urban Vehicle Access Regulations, UVAR) zu arbeiten. Über Städtenetzwerke gelangte das Thema in die Ausschreibung von „Horizont 2020“. Und seit 2019 arbeiten die niederländische Gemeinde Helmond, das italienische Padua und die spanische Stadt Vitoria-Gasteiz im EU-Projekt ReVeAL gemeinsam am Thema.
Netzwerke liefern Expertise, Inspiration und Rückenwind

„Für Mitarbeitende in den Kommunalverwaltungen liefert ihr europaweites Netzwerk Expertise, Inspiration und – besonders wichtig: Rückenwind“, sagt Dagmar Köhler. (Quelle: Alessia Giorgiutti)
Für Mitarbeitende in den Kommunalverwaltungen liefert ihr europaweites Netzwerk Expertise, Inspiration und – besonders wichtig: Rückenwind. Sie schätzen besonders den Rückhalt ihrer europäischen Kollegen, der sie ermutigt, Neues auszuprobieren und Widerstände vor Ort auszuhalten.
Für Kommunen ist der europaweite Austausch auch eine Chance, sich mit ihren Erfolgen zu präsentieren. So hat sich Helmond als Innovationsstandort für Mobilität international einen Namen gemacht und motiviert Klein- und Mittelstädte in ganz Europa dazu, innovative Maßnahmen zu testen. Mit europäischen Förderprojekten werden Forschungsergebnisse für alle Kommunen zugänglich, die sich im kleinen oder großen Maßstab einbringen wollen. Im Gegenzug eröffnen sich für Kommunen neue Kanäle, um ihren Bedarfen in der europäischen Politik Gehör zu verschaffen.
Dabei wird die Vernetzung von Städten nicht nur aus kommunaler Perspektive als Treiber für Progression begriffen. Etwa unterstützt das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit dem im Rahmen der Leitinitiative „Zukunftsstadt“ angesiedelten Programm „Zukunftsstadt Goes Europe“ Kommunen dabei, sich europaweit zu vernetzen.
Das Programm umfasst verschiedene Themen der nachhaltigen Stadtentwicklung, beispielsweise Fragen zu Themen wie Coronakrise, Mobilität, Innenstadtentwicklung, Digitalisierung, Klimaanpassung und Bürgerbeteiligung. Damit spiegelt es zugleich wesentliche Themenfelder wider, auf denen sich ein städteübergreifend vernetztes Handeln im europäischen Kontext als lohnend erweist. Kommunen, die die Fördervoraussetzungen erfüllen, können sich bis zum 31. Oktober auf die Mittel bewerben.
Die Autorin
Dagmar Köhler leitet beim Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) im Forschungsbereich Mobilität das Thema Nahmobilität sowie die Fahrradakademie. Zuvor arbeitete sie unter anderem für das europäische Städtenetzwerk Polis in Brüssel.