Es herrsche ein „unerträglicher Zustand“. Manche der Gemeinschaftsunterkünfte, die eigentlich nur für die vorübergehende Bleibe gedacht sind, werde von Flüchtlingen permanent belegt. Teils wohnten Menschen über Jahre darin. „Hier werden Kinder geboren und Ehen geschlossen“, sagt Burkhard Jung. Gerade errichtet die Stadt Leipzig eine weitere Zeltstadt für rund 350 Flüchtlinge. Es stehe keineswegs in Frage, dass die Städte ihre humanitäre Verantwortung wahrnehmen und Flüchtlingen Schutz bieten. „Dennoch treibt uns um, dass wir vielerorts an Grenzen der Belastung kommen“, unterstreicht der Leipziger Oberbürgermeister Jung, der auch Vizepräsident des Städtetags ist. Es brauche diesbezüglich dringend ein „abgestimmtes Handeln zwischen Bund, Ländern und Kommunen“.
Flüchtlingsaufnahme: Städte „am Limit“
Die Flüchtlingsaufnahme war heute das bestimmende Thema bei der virtuellen Präsidiumssitzung des kommunalen Spitzenverbands. Bei einer Pressekonferenz im Anschluss an die Sitzung forderte Städtetagpräsident Markus Lewe, der Oberbürgermeister von Münster, „ein umfassendes und dauerhaft gültiges Konzept für die Unterbringung, aber auch für die Integration von Geflüchteten“. Viele Städte seien bei der Versorgung von Flüchtlingen „am Limit“. Die Situation spitze sich täglich zu. Demgegenüber kritisiert Lewe ein „langwieriges Verhandlungspingpong zwischen Bund und Ländern“.
Zum einen brauche es kurzfristige Lösungen für die Aufnahme und die Integration der meist aus der Ukraine stammenden Flüchtlinge. Zum anderen brauche es angesichts zunehmender Migrationsbewegungen auch über den aktuellen Ukrainekonflikt hinaus belastbare Strukturen und Strategien, wie mit den ankommenden Menschen umzugehen ist. Dabei gehe es aus Sicht der Kommunen etwa um die Verfügbarkeit von Wohnraum, Kita- und Schulplätzen sowie um die Kapazitäten für die Integration, so Lewe. Das sei nicht zuletzt eine Finanzfrage.
Integration: Finanzmittel reichen nicht
Es sei absehbar, dass die vom Bund in Aussicht gestellten Finanzmittel in der Größenordnung von 2,75 Milliarden Euro in diesem Jahr für die Bewältigung der Aufgabe „nicht ausreichen“, so Lewe. Es seien also eine „zusätzliche finanzielle Zusage der Bundesregierung“ und ein „Finanzierungsmodell, das sich an die Realität der steigenden Flüchtlingskosten anpasst“, vonnöten. Das für den 10. Mai angesetzte Bund-Länder-Treffen zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und den Ministerpräsidenten komme dafür „sehr spät“. Auch der zweite Migrationsgipfel von Innenministerin Nancy Faeser vor wenigen Wochen sowie die darauf folgenden Arbeitsgruppen hätten „keine echten Forstschritte bei den Themen Unterbringung und Finanzen, Integration und Rückführung“ hervorgebracht.
Was die Finanzierung der Flüchtlingsaufnahme betrifft, schlägt der Städtetag das sogenannte Vier-Säulen-Modell als Orientierung vor. Das beinhaltet eine vollständige Übernahme der Kosten der Unterkunft durch den Bund sowie eine Pauschale für flüchtlingsbezogene Zwecke, Mittel für unbegleitet minderjährige Flüchtlinge und eine 670-Euro-Pauschale pro Kopf. Gleichwohl sei die Aufnahme von Flüchtlingen „nicht nur eine Frage des Geldes“, sondern auch eine Frage pragmatischen Handelns, betont Jung. Beispiel Leipzig: Wolle die Stadt eine hier dringend nötige Unterkunft bauen, könne der Prozess dafür durchaus „drei Jahre bis zum ersten Spatenstich“ dauern. Dieser Zeitverzug werde dem akuten Bedarf nicht gerecht.
„Dysbalancen“ bei der Verteilung von Flüchtlingen
Die aktuelle Krise müsse von der Bundesregierung also nicht nur geopolitisch und verteidigungspolitisch bewältigt werden, unterstreicht Lewe. Es sei gleichsam eine innenpolitische Aufgabe, die Leistungsfähigkeit der Kommunen und mithin den Zusammenhalt der Gesellschaft nicht zu gefährden. Angesichts der Überlastung von Kommunen bahne sich diese Gefahr gegenwärtig an.
Dabei stellt Lewe bei der Verteilung von Flüchtlingen „Dysbalancen“ fest. Diese beträfen sowohl die Verteilung innerhalb Deutschlands, wo einzelne Kommunen größere Lasten schultern als andere, als auch die „europäische Dimension“, wo sich Fluchtbewegungen auf einzelne Staaten stärker auswirken als auf andere. Auf beiden Ebenen, der nationalen und der europäischen, brauche es eine „faire Verteilung“.
Flüchtlingsaufnahme als Frage urbaner Resilienz
Lewe erwartet, dass die Aufnahme von Flüchtlingen langfristig eine Frage der Resilienz von Städten bleibt. Umso wichtiger sei es, eine „dauerhafte Integrationsinfrastruktur, die der Volatilität entgegenkommt“, zu schaffen. Modulare Lösungen seien gefragt. Jung spricht sich für ein „atmendes System“ aus, in dem der Bund für die Aufnahme eine größere operative Verantwortung übernimmt. Jung schlägt vor, dass der Bund eigene Unterbringungskapazitäten für die Erstaufnahme schafft. Die dort registrierten Flüchtlinge sollten erst nach ihrer Anerkennung auf die Kommunen verteilt werden.
„Wer eine Bleibeperspektive hat, soll vermittelt werden, wer aber keine Bleibeperspektive hat, soll überhaupt nicht auf die kommunale Ebene verteilt werden“, sagt Jung. Dies könne den Zustrom aus Sicht der Kommunen „puffern“. Bislang müssen die Kommunen auch die Flüchtlinge unterbringen, die perspektivisch wieder in ihre Herkunftsländer rückgeführt werden. Darüber hinaus umreißt der Hauptgeschäftsführer des Städtetags Helmut Dedy, wie das baulich vonstattengehen kann: Der Bund könne in modularer Holzbauweise Einrichtungen für die Erstaufnahme vorhalten, diese in „Spitzenzeiten“ errichten und später wieder abbauen.
Die Dramatik der Situation sei „noch nicht in allen Köpfen angekommen“ – insbesondere nicht in denen der Bundes- und Landespolitik, meint Jung. „Wir wollen verhindern, dass Turnhallen belegt werden“, sagt der Oberbürgermeister in Erinnerung an die teils turbulenten Zustände zu Beginn des Ukrainekonflikts bei der Unterbringung von Flüchtlingen in den Städten.
Das Foto oben zeigt eine zur Notunterkunft hergerichtete Sporthalle in Münster, die zwischenzeitlich im Mai 2022 wieder freigeräumt wurde.