Mehr Europa wagen: Drei OBM aus Grenzgregionen fordern ein stärkeres Gewicht der Kommunen in der EU und kritisieren nationale Hürden dafür.

Die Oberbürgermeister deutscher Grenzregionen drängen auf einen stärkeren Einbezug der kommunalen Ebene in europäische Entscheidungsprozesse. Dies betonten Frank Mentrup, OBM aus Karlsruhe, Uwe Conradt, OBM aus Saarbrücken, und Octavian Ursu, OBM aus Görlitz, am Montag in einem Videointerview mit den Fachmedien „OBM-Zeitung“ und „Der Neue Kämmerer“. Das vollständige Videointerview ist auf dieser Seite unten abrufbar.

Coronakrise unterstreicht Relevanz der Städte in Europa

Alle drei Städte befinden sich in einer Grenzregion – Saarbrücken und Karlsruhe an der deutsch-französischen Grenze, Görlitz an der Grenze zu Polen. Gerade der Kampf gegen die Coronakrise unterstreiche die Relevanz der kommunalen Handlungsebene, so der Tenor der Oberbürgermeister. Gleichzeitig mache die damit verbundene Diskussion um Grenzschließungen die Unzulänglichkeiten der EU offensichtlich. Die nationalstaatliche Grenzpolitik stünde bisweilen nicht im Einklang mit der längst europäisch vernetzten Lebensrealität vor Ort und behindere pragmatischen Lösungen etwa in Krisensituationen.

Dabei beziehen sich Conradt, Mentrup und Ursu auf die Grenzschließungen und -kontrollen, die zuletzt von den Nationalstaaten als Instrument gegen die Pandemie verfügt wurden. Während im Südwesten die Bundesregierung die Grenze zu Frankreich schloss, gingen im Fall von Görlitz die Grenzschließungen von polnischer Seite aus. Die Effekte in den Grenzregionen waren jedoch ähnlich. Die Grenzschließungen führten zu einer zusätzlichen, unverhältnismäßigen Belastung und waren nicht zielführend, so die OBM im Videointerview. Als umso wichtiger erweise es sich, die Belange der Kommunen in europäischen Entscheidungen zu gewichten.

„Totalausfall in Brüssel“: Conradt kritisiert Grenzschließungen

Am Beispiel Saarbrückens als Teil des Eurodistrikts SaarModelle spricht Conradt von einem „grenzüberschreitenden Wirtschafts- und Kulturraum“. Die Lebenswelten seien über Grenzen hinweg eng miteinander vernetzt. Dies betreffe nicht zuletzt pendelnde Mitarbeiter im Gesundheitswesen und damit die medizinische Infrastruktur. Insofern seien offene Grenzen für die Region „absolut systemrelevant“.

Dass es dennoch gerade im Kampf gegen die Pandemie, in der ein aufeinander abgestimmtes Handeln essentiell gewesen wäre, zu Grenzschließungen und -kontrollen gekommen sei, habe die Region zeitweise zusätzlich schwer belastet. Darauf habe er gemeinsam mit den 28 Bürgermeistern des Eurodistrikts auch Bundeskanzlerin Angela Merkel und den französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron hingewiesen.

Conradt spricht in diesem Zusammenhang von einem „Totalausfall in Brüssel“. Der „Tiefschlaf“ habe „nachhaltige Spuren hinterlassen“ – sogar bei sonst begeisterten Europäern. Dass man in Berlin die Grenzschließungen verfügt habe, „war für uns ein Schock“.

Ursu: „Uns standen die nationalen Ebenen im Weg“

Mentrup und Ursu berichten ähnliches. Der Karlsruher Mentrup erinnert daran, dass wichtige öffentliche Stellen vor Ort überhaupt nicht über die Grenzschließungen informiert gewesen, sondern davon überrascht worden seien. Zudem hätten diese in der Bevölkerung „negative Emotionen ausgelöst“, woraus sich antieuropäischen Auswüchse ergeben hätten. Etwa seien französische Pendler von Teilen der Stadtgesellschaft als „Infektionsfeinde“ empfunden und in manchen Fällen sogar regelrecht angegangen worden. Beispiele dafür gibt es nicht nur in Karlsruhe. Mentrup: „Dafür schämen wir uns alle sehr.“

Auch in Görlitz habe die grenzüberschreitende Realität in der Region die nationale Grenze längst überholt. Entsprechend hätten die Grenzschließungen zu gravierenden Einschnitten in den regionalen Lebensraum geführt. Ursu spricht davon, dass er sich stets telefonisch mit seinem Amtskollegen aus der Nachbarstadt abgestimmt habe. Man habe nach pragmatischen Lösungen für das Zusammenleben der Menschen vor Ort gesucht. „Uns standen die nationalen Ebenen im Wege.“ Dies deute darauf hin, dass die Grenzregionen auf der kommunalen Ebene im Bereich der europäischen Integration „viel weiter sind als Europa in Brüssel“.

OBM fordern stärkeren europäischen Blick aufs Infektionsgeschehen

Man merke, „dass die europäische Ebene völlig unkoordiniert agiert“, kritisiert Ursu im Hinblick auf eine einheitliche europäische Linie im Kampf gegen Corona. „Wir brauchen funktionsfähige und vorbereitete Institutionen“, ergänzt Conradt.

Provokant fragt der Saarbrücker OBM, wie es denn sein könne, dass wichtige Organisationen wie das European Center for Disease Prevention and Control ein halbes Jahr nach dem Beginn der Pandemie noch immer nicht im breiten öffentlichen Bewusstsein angekommen seien und sich der Debattenfokus stattdessen auf nationale Organisationen wie das Robert Koch Institut konzentriere. Dabei verbiete sich angesichts der mannigfaltigen Verflechtungen zwischen den Mitgliedsstaaten der EU doch gerade eine isolierte nationale Betrachtung des Infektionsgeschehens.

Mentrup: Integrierte Denkweise „in Brüssel und Berlin nicht verankert“

Dies korrespondiere mit der Grenzfrage. Nationale Grenzen seien bei der Betrachtung der Pandemie in Europa „nicht anders zu bewerten als die einer Stadt oder eines Landkreises“, so Mentrup. Es gelte, zu akzeptieren, dass in europäischen Grenzregionen das Familienleben, das gemeinsame Arbeiten und Erleben „genauso selbstverständlich ist wie in einem Bundesland, in einer Stadt oder in einem Landkreis“, sagt der Karlsruher OBM. „Diese Denkweise ist in Brüssel und in Berlin überhaupt noch nicht verankert.“

Die grenzüberschreitenden Erfahrungen, die in den Kommunen täglich gemacht würden, könnten Vorbild für die weitere europäische Integration sein. Gleichzeitig machten viele Herausforderungen, die Grenzregionen betreffen, noch bestehende Defizite im europäischen Zusammenwachsen deutlich. Conradt weist auf hohe bürokratische Hürden und diplomatische Verwirrungen hin, wenn es beispielsweise darum geht, im Eurodistrikt die Rettungsdienste oder den ÖPNV grenzüberschreitend zu organisieren. Vor Ort ließe sich vieles pragmatisch lösen – aber: „Wir brauchen dafür auch europäische Lösungen.“

Grenzregionen als „Experimentierraum“ für mehr Europa

Dies untermauere die Bedeutung der kommunalen Ebene für die Weiterentwicklung Europas, so Mentrup. Er sieht in den Grenzregionen das Potential, eine „Art Experimentierraum“ für eine noch stärkere europäische Vernetzung zu sein. In diesem Sinne erinnert er an den zuletzt zwischen der deutschen und französischen Regierung geschlossenen „Aachener Vertrag“.

Die kommunale Ebene bilde ein Fundament der europäischen Idee. Um dieses zu stärken, müsse sie aber viel stärker in Beratungs- und Entscheidungsprozesse der EU einbezogen werden als bisher. Ohnehin seien die deutschen Kommunen im Ausschuss der Regionen auf EU-Ebene bislang keineswegs ausreichend repräsentiert. Es gelte, die Prinzipien der Multilevel Governance in Europa zu forcieren, so Mentrup.

Grenzregionen und Kommunen als „Nahtstellen“ Europas

Auch Ursu hält es für die Weiterentwicklung Europas und das konkrete Zusammenleben der Europäer für wichtig, „mehr Verantwortung den Regionen und Kommunen zu delegieren“. Die Kommunen und vor allem Grenzregionen seien der Kit, sagt Conradt: Sie seien die „Nahtstellen“ Europas.

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(Anmerkung: In dem Video verweist der Moderator auf ein Beispiel für die bürokratischen Wirren Europas im Zusammenhang mit der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von Kommunen. Dabei führt er den Bau einer Brücke und den grenzüberschreitenden ÖPNV – versehentlich – in Lahr an. Richtigerweise handelt es sich um die Stadt Kehl und deren Verbindung zu Straßburg.)

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