Die Bluttat von Hanau prägt die Stadt noch immer. OBM Claus Kaminsky über das heutige Klima, den politischen Diskurs und Hetze gegen ihn.

Vor fast einem Jahr, am 19. Februar 2020, sorgte eine rassistisch motivierte Bluttat in Hanau für bundesweites Entsetzen. Bei einer Fahrt durch die Stadt erschoss der Täter an verschiedenen Orten mehrere Menschen mit Migrationshintergrund und schließlich sich selbst. Nun spricht OBM Claus Kaminsky darüber, wie das Ereignis noch immer auf die Stadtgesellschaft wirkt, über weitere Fälle von Hass und Hetze im lokalpolitischen Diskurs, über die sozialen Medien als Treiber dafür und über die Verpflichtung der politischen Akteure des demokratischen Spektrums, die Wahrheit und die Freiheit zu verteidigen.

Angriffe von Hanau: „Ereignisse belasten die Menschen noch immer“

OBM: Herr Kaminsky, vor einem Jahr, im Februar 2020, sorgte eine rassistisch motivierte Bluttat in Hanau für bundesweites Entsetzen. Wenn Sie auf die Tat und die darauf folgenden Wochen zurückschauen: Wie ging die Stadtgesellschaft damit um?

Claus Kaminsky: Nach wie vor stecken die furchtbaren Stunden der schrecklichen rassistischen Morde vom 19. Februar der Stadt und der Stadtgesellschaft tief „in den Knochen“. Damals nahm ich die kurzfristige Bewertung, der 19. Februar 2020 sei der schrecklichste Tag, den Hanau in Friedenszeiten erlebt habe, vor – im Grundsatz hat sich an dieser Einschätzung nichts geändert. Dies gilt insbesondere für die Belastungen, die die Opfer beziehungsweise ihre Familien auszuhalten haben. Positiv stimmt mich der Umgang der Stadtgesellschaft im Nachhinein mit dem Ereignis. Es waren Solidarität und Nächstenliebe spürbar. „Hanau steht zusammen“ wurde zum Leitmotiv in den ersten Tagen und Wochen nach dem Tag. Ein Motto, das auch in der Coronakrise ein Leitmotiv in Hanau ist. Die ursprüngliche Botschaft dabei ist: Die Opfer waren keine Fremde. Sie waren Teil der Stadtgesellschaft, hier geboren, ihre Familien lebten in zweiter oder dritter Generation in der Stadt. Insofern sind Presseberichte, die von einer „fremdenfeindlichen“ Tat sprechen, nicht stimmig.

OBM: Wie ist die Stimmung diesbezüglich heute? Welche Auswirkungen hat das Ereignis auf das Klima in der Stadtgesellschaft?

Claus Kaminsky: Wenn Sie mich vor dem Ereignis gefragt hätten, ob ich eine solche Tat in Hanau für möglich hielte, hätte ich dies wohl nicht ausschließen können, doch ich hätte es für höchst unwahrscheinlich gehalten. Denn Hanau hat eine starke internationale Tradition. Integration gehört zur Geschichte der Stadt. Hier leben Menschen aus über 120 Nationen. Das Miteinander von Menschen mit unterschiedlicher Geschichte ist gute und gelebte Tradition in Hanau. Das gilt auch weiterhin. Doch das Klima heute ist durchaus davon geprägt, dass die Ereignisse die Menschen noch immer belasten. Das zeigt sich etwa daran, dass, wenn Martinshörner von Einsatzfahrzeugen ertönen oder Rettungshubschrauber auf unser Klinikum zusteuern, die Nervosität steigt. Ich nehme das beispielsweise über soziale Medien wahr, in denen die Menschen fragen, was geschehen sei. Das zeigt, dass das Gefühl, in Sicherheit zu leben, nachhaltig erschüttert ist.

OBM: Was kann man als Stadt dagegen tun?

Claus Kaminsky: Wir richten den Blick nach vorne. Im September hat die Stadtverordnetenversammlung beschlossen, ein Zentrum für Vielfalt und Demokratie zu gründen. Wie werden nicht müde, Zeichen zu setzen gegen Ausgrenzung und Intoleranz und für Respekt, Vielfalt und ein friedliches Miteinander. Diese Haltung teilt die große Mehrheit der Stadtgesellschaft.

Hass und Hetze: „Bringe jede Straftat zur Anzeige“

OBM: Sie sprechen von Respekt und friedlichem Miteinander. Was den politischen Diskurs in der Stadt betrifft, kam es zuletzt im Kontext der Debatte um Maßnahmen gegen die Coronakrise aber nicht nur zu Kritik an Ihrem Kurs, sondern auch zu regelrechter Hetze dagegen in sozialen Medien. Es war der Aufruf zu lesen, Ihr Privathaus mit Eiern zu bewerfen. Was muss eine in der Öffentlichkeit stehende Person aushalten, wo sind Grenzen?

Claus Kaminsky: Von Beruf bin ich Kommunalpolitiker. Da empfiehlt es sich, ein dickes Fell zu haben. Da gehört es sozusagen zur Stellenbeschreibung, dass man Kritik ausgesetzt ist, die man als nur schwer erträglich empfindet. Bei mir – und bei vielen anderen Kollegen – uferte dies allerdings aus. Die sogenannten soziale Medien sind zum Teil ein Segen, zum Teil sind sie aber auch „asoziale Medien“, in denen etwa zu Straftaten gegen mich aufgerufen wurde. Dem Aufruf, mein Haus mit Eiern zu bewerfen, ging meine Bitte, in der Coronapandemie auf Halloweenbesuche zu verzichten, voraus. Ein weiterer Aufruf zielte darauf ab, mir ins Gesicht zu treten. Mittlerweile bringe ich jede solcher Straftaten konsequent zur Anzeige und stelle Strafantrag. Damit befassen sich jetzt die Polizei und der Staatsschutz.

OBM: Auf Ihr Haus wurden später, in anderem Kontext, tatsächlich Eier geworfen. Wie fühlt sich das an?

Claus Kaminsky: Nicht gut. Es geht dabei nicht um den Sachschaden und die Reinigung der Fassade. Es hat mehr damit zu tun, dass es sich um einen Übertritt in die Privatsphäre handelt. Ich lebe in meinem Haus mit meiner Familie – das betrifft uns alle. Uns alle haben die Ereignisse beunruhigt, geärgert und wütend gemacht. Klar ist aber auch: Wer seine Aufgabe ernst nimmt, darf sich davon in seiner Arbeit und in seinem politischen Kurs nicht beeinflussen lassen. Denn denen, die glauben, den öffentlichen Diskurs mit dem Werfen von Eiern bestreiten zu müssen, darf man nicht das Feld überlassen.

„Hass und Hetze multiplizieren sich im Internet“

OBM: Wie schätzen Sie grundsätzlich den Umgang der Sicherheitsbehörden mit Thema „Hass und Hetze“ insbesondere hinsichtlich öffentlicher Amts- und Mandatsträger ein? Wird das Thema ernst genug genommen?

Claus Kaminsky: Ich glaube, ja. Auch ich selbst nehme es mittlerweile ernster. Ich bin 25 Jahre im Hauptamt politisch tätig, acht Jahre als Bürgermeister und 18 Jahre als Oberbürgermeister. Immer wieder gab es Bedrohungen, wilde Zuschriften oder Beschimpfungen. Das habe ich nicht immer ernst genommen. Doch mit den sozialen Medien hat sich das geändert. Die Verbreitung solcher Botschaften hat dadurch eine andere Qualität gewonnen. Es ist eine gewisse Verrohung hinzugekommen, die sichtbar geworden ist. Wo es in der realen Welt vielleicht Widerspruch, eine Hemmung oder eine gewisse soziale Kontrolle gäbe, findet der, der in der virtuellen Welt pöbelt, in den dunklen Ecken des Internets dafür vielleicht sogar Likes und Bestätigung. Auf diese Weise multiplizieren sich Hass und Hetze im Internet.

OBM: Sie haben sich unter anderem an die Meldestelle „hessengegenhetze“ gewandt. Was kam dabei heraus?

Claus Kaminsky: Ich habe mich nach den genannten Ereignissen dort unmittelbar gemeldet. Daraufhin wurden die betreffenden Kommentare als Hasskommentare eingestuft, und die Meldestelle hat sie mit ihren Möglichkeiten weiterverfolgt sowie Hinweise an den Staatsschutz gegeben. Die Urheber dieser verbalen Angriffe sind schließlich ermittelt worden. Ich lasse mir solche Anfeindungen nicht mehr gefallen und gebe konsequent Hinweise an die Meldestelle. Parallel stelle ich Strafanträge.

Gegen Hass und Hetze: Schnell, konsequent und geschlossen

OBM: Zuletzt tat sich ein Abgeordneter des Hanauer Lokalparlaments aus Reihen der Republikaner in sozialen Medien mit Fotomontagen hervor, die die Kanzlerin und den Bundespräsidenten als Kriegsverbrecher bei den Nürnberger Prozessen verunglimpfen. Wie reagiert die Stadtpolitik darauf?

Claus Kaminsky: Die Stadtverordnetenvorsteherin und ich haben uns ebenfalls an die Zentralstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität gewandt und Strafanzeige gestellt. Von den politischen Parteien wurde dieses Vorgehen begrüßt. Dies hat außerdem dazu geführt, dass der Betreffende, der sich übrigens als Nachrücker im Parlament lokalpolitisch nie besonders hervorgetan hatte, sein Mandat niedergelegt hat und die Republikaner ihn von der Liste für die nächsten Kommunalwahlen genommen haben. Es wurde schnell, konsequent und geschlossen reagiert. Es ist im Übrigen ein Verdienst der Presse, die an dieser Stelle ihrer Rolle als Hüterin der Demokratie gerecht geworden ist, dass seine Umtriebe im Internet aufgedeckt wurden.

OBM: Schnelligkeit, Konsequenz und Geschlossenheit – sind dies die Rezepte für einen adäquaten Umgang mit solchen Situationen?

Claus Kaminsky: Ich kann nur empfehlen, nicht lange zu diskutieren. Wenn Grenzen überschritten werden, muss eine wehrhafte Demokratie zeigen, dass sie zusammenhält und Strafdaten dorthin verweisen, wo sie hingehören – an die Justiz. Die Meinungsfreiheit hat ihre Grenzen dort, wo das Strafrecht beginnt.

OBM: Sie sprechen von einer wehrhaften Demokratie. Vor wenigen Tagen erlebten wir angesichts der Wahlniederlage von Präsident Donald Trump im Zusammenhang mit dem Amtswechsel in den USA einen regelrechten Sturm des Kapitols in Washington. Dass so etwas in der für die westliche Welt führenden Demokratie geschehen könnte, trieb vielen die Sorgenfalten auf die Stirn. Nach Ihrer Erfahrung: Sind solche Ereignisse „weit weg“, oder durchzieht der „Geist Donald Trumps“ auch den hiesigen politischen Diskurs?

Claus Kaminsky: Wir haben es alle hoffentlich nicht vergessen, was vor wenigen Monaten vor und im Reichstag in Berlin auf Einladung einiger AfD-Parlamentarier geschehen ist. Im Eingangsbereich haben nur wenige, mutige Polizisten verhindert, dass Personen aus Reihen von Querdenkern und Reichsbürgern in den Reichstag „einmarschieren“. Wir sollten also nicht überheblich nach Amerika deuten. Gleichwohl bewegt mich das, was dort geschehen ist, tief. Kein Demokrat kann da gleichgültig bleiben, keiner darf da wegschauen. Natürlich kann man nichts ausschließen. Aber ich will fest daran glauben, dass so etwas in Deutschland im Moment nicht vorkommt. Wobei wir im genannten Fall gesehen haben, wie schnell so etwas gehen kann. Doch ich kann es mir nicht vorstellen, eine Stadtverordnetenversammlung unter Polizeischutz abhalten zu müssen.

Mit demokratischem Prinzip und Wahrhaftigkeit gegen Hass und Hetze

OBM: Welche Gründe sehen Sie für das aufgeheizte Klima? Und welche Rolle spielen die sozialen Medien als Treiber von Hass und Hetze?

Claus Kaminsky: Ich glaube gewiss: Die sozialen Medien haben in besonderer Weise in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass vieles an Hass und Hetze verbreitet wurde. Die Reaktion darauf – wie die Einrichtung der genannten Meldestelle – dauerte zu lange. So konnten sich über Jahre ungehemmt ein Ungeist, Hass und Gehässigkeit breit machen. Mit diesem Phänomen haben wir nun zu kämpfen. Hinzu kommt – bei allen positiven Werten, die wir mit den USA verbinden –, das der amerikanische Präsident Donald Trump in den vergangenen Jahren in vielen Situationen die Wahrhaftigkeit aus der öffentlichen Debatte herauszunehmen versucht hat. Davon sind auch Formen in Europa erkennbar, wenn ich an das Agieren eines Viktor Orban denke oder an die Argumente von Boris Johnson im Zusammenhang mit dem Brexit. Umso mehr sind die politischen Akteure des demokratischen Spektrums parteiübergreifend dazu aufgerufen, vehement dafür einzutreten, dass Fakten nicht geleugnet werden. Über deren Interpretation und Schlussfolgerungen ist nach demokratischem Prinzip selbstverständlich trefflich zu streiten. Aber wenn Wahrheiten negiert und auf den Kopf gestellt werden, ist dies der Türöffner für die Beliebigkeit von Debatten. Dies nährt Verschwörungstheorien und begünstigt Gehässigkeit, Bösartigkeit, Hass und Hetze.

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