VDV-Präsident Wortmann hofft in der Coronakrise auf weitere Bundeshilfen für den ÖPNV. Kommunen dürften bei der Mobilitätswende nicht zögern.

Die Coronakrise hat massive Auswirkungen auf die Mobilität und auf das Verkehrsverhalten in Städten. Der Lockdown im Frühjahr sorgte für einen Einbruch der Fahrgastzahlen im ÖPNV auf etwa 10 bis 30 Prozent im Vergleich zu Referenzwerten. Welche Effekte hat dies auf die Verkehrsunternehmen und die Zukunft des ÖPNV? Wie ist die Branche aufgestellt, und worauf sollten Kommunen sich einstellen? Dazu äußert sich Ingo Wortmann, Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), gegenüber den Fachmedien „Der Neue Kämmerer“ und OBM-Zeitung.

„Coronakrise ist ein herber Rückschlag für Branche und Kommunen“

OBM: Herr Wortmann, welche Rolle spielen die Verkehrsunternehmen, insbesondere die kommunalen, für die Verkehrswende?

Ingo Wortmann: Eine entscheidende. Ohne die Verkehrsunternehmen in den Städten, den Ballungsrandzonen und auf dem Land ist die für den Klimaschutz dringend notwendige Verkehrswende nicht möglich. Der Sektor Verkehr würde dann auch keinen ausreichenden Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele bis 2030 erzielen. Infrastruktur und Angebot müssen ausgebaut werden, damit der ÖPNV noch attraktiver wird und vor allem die notwendigen Kapazitäten entstehen. Es ist dabei sinnvoll, den klassischen Linienverkehr mit bedarfsgesteuerten Angeboten, also beispielsweise modernen Anrufsammeltaxis und Rufbussen, den so genannten On-Demand-Verkehren, zu ergänzen. Der ÖPNV hat jetzt eine gute Chance, seine Vorteile für die Klimawende in die Waagschale zu werfen. Diese sollten wir nutzen.

OBM: Dann kam Corona… Welche Effekte hat denn die Coronakrise auf das Mobilitätsverhalten der Menschen? Und auf den Umweltverbund?

Ingo Wortmann: Nach über einem Jahrzehnt von Rekordfahrgastzahlen bei Bus und Bahn ist die Covidkrise ein herber Rückschlag für die Branche und die Kommunen. Wir hatten uns für 2020 viel vorgenommen, wollten alle Kraft in den Ausbau und die Modernisierung unserer Angebote stecken. Die Arbeiten laufen weiter. Allerdings verlangt uns die Pandemie derzeit alles ab. Wir verlieren wichtige Zeit, um die Klimaschutzziele bis 2030 zu erreichen. Zwar hat sich der ÖPNV nach dem tiefen Einbruch der Fahrgastzahlen auf einem hohen Niveau eingependelt. Allerdings sind die derzeitigen Fahrgeldeinnahmen für die Finanzlage der Unternehmen vollkommen unzureichend. Der Umweltverbund konnte mit der gestiegenen Radverkehrsnachfrage zumindest im Frühling und Sommer während der Pandemie ein wichtiges Potenzial stärker ausschöpfen. Aber auch der Pkw-Bereich hat bedauerlicherweise zugelegt.

„Der Klimawandel wird durch Corona nicht aufgehoben“

OBM: Was bedeutet das für die Verkehrsunternehmen?

Ingo Wortmann: Die gute Nachricht ist: Unsere Stammgäste fahren größtenteils weiter Bus und Bahn, das Vertrauen in Sicherheit und Leistung ist da. Im Schnitt bewegten wir uns von Juni bis Ende September bei den Fahrgastzahlen zwischen 70 und 80 Prozent bundesweit. Die fehlenden 20 bis 30 Prozent kamen daher, dass sehr viele Leute in Kurzarbeit sind oder von zu Hause arbeiten. Außerdem fehlen die Anlässe: ohne Tourismus, Konzerte, Fußball und Freizeitangebote fehlen uns die Gelegenheitskunden. Aber natürlich gibt es auch Vorbehalte. Nach allen bisherigen Erkenntnissen besteht im ÖPNV jedoch kein erhöhtes Ansteckungsrisiko. Unser Fahrplan- und Platzangebot haben wir auf eigenes Risiko trotz Einbrüchen bei den Fahrgastzahlen bisher nahezu vollständig aufrechterhalten. Auch die Maskentragepflicht in Bus und Bahn wird weit überwiegend eingehalten.

OBM: Bedroht die Coronakrise die Verkehrswende?

Ingo Wortmann: Der Klimawandel wird durch Corona ja nicht aufgehoben. Im Zweifel sind seine negativen Auswirkungen, auch die wirtschaftlichen und sozialen, größer als jene der Covidkrise – auch für Deutschland. Planung und Ausbau des ÖPNV müssen daher auch unter den aktuell erschwerten Bedingungen vorangetrieben werden. Das ist Konsens in Deutschland und wichtig für die Kommunen. Dabei hat es sich bewährt, dass in Zeiten knappen Geldes vor allem die Infrastrukturplanung vorangetrieben wird, um rechtzeitig umsetzungsreife Projekte zu haben, wenn hoffentlich bald wieder mehr Geld in den Kommunen zur Verfügung steht.

„Mehr konstruktiven Dialog mit den Schulträgern“

OBM: Bedroht die Coronakrise darüber hinaus das Mobilitätssystem in Deutschland, insbesondere aus kommunaler Sicht, den ÖPNV, wie wir ihn kennen?

Ingo Wortmann: Die Branche und die politischen Entscheidungsträger haben mit dem Covid-19-Beginn in einem engen Schulterschluss frühzeitige und umsichtige Maßnahmen ergriffen: vom Gesundheitsschutz über das Aufrechterhalten des Angebots und die Maskenpflicht – bis hin zu der Einrichtung des ÖPNV-Rettungsschirms durch Bund und Länder. So sollten wir auch künftig verfahren. Die Leistungen der Verkehrsunternehmen sind für Wirtschaft und Kommunen unverzichtbar, sie sind systemrelevant.

OBM: Was ist in der Krise wichtig für die Verkehrsunternehmen, was fordern sie?

Ingo Wortmann: Wir setzen in der Krise auf enge Kooperation. Wir mussten alle Opfer bringen, Branche, Politik, Arbeitgeber und -nehmer, die Schüler et cetera. Nur bei den meisten Schulen hat sich noch zu wenig bewegt. Ich wünsche mir mehr konstruktiven Dialog mit den Schulträgern über gemeinsame Lösungen wie etwa gestaffelte Schulanfangszeiten. Wenn die jüngeren Schüler wie gewohnt mit dem Unterricht beginnen, die Älteren zeitversetzt ein wenig später, könnten wir auf einen Schlag für Schüler und Pendler mindestens 20 Prozent mehr Kapazität in Bus und Bahn freisetzen – in der Coronazeit und gegebenenfalls auch für die weitere Zukunft. Ich kenne erfolgreiche Beispiele in ganz Deutschland, aber es sind nach wie vor Einzelfälle. Es ist mehr möglich.

„Sind 2021 auf Fortsetzung des Rettungsschirms angewiesen“

OBM: Hat die Politik genug getan, um zu helfen? Was kann sie noch tun?

Ingo Wortmann: Bund, Länder und Kommunen haben, man kann das nicht stark genug herausstellen, in der Krise rechtzeitig sachgerechte Maßnahmen ergriffen, haben Bus und Bahn wirksam unterstützt. Diese Leistung muss man, gerade für das laufende Jahr, anerkennen. Für 2021 sind wir auf eine Fortsetzung des Rettungsschirms angewiesen, um unser Fahrplan- und Platzangebot im bisherigen Umfang aufrechterhalten zu können. Gemeinsam müssen wir auch weiterhin um die Rückkehr der Fahrgäste werben. Eine dauerhafte Renaissance des Autoverkehrs wäre umwelt- und verkehrspolitisch fatal.

(Anmerkung der Redaktion: Der Bund unterstützt Länder und Kommunen nach Auskunft des Bundesverkehrsministeriums bei der Sicherstellung öffentlicher Mobilitätsangebote auf verschiedenen Rechtsgrundlagen mit jährlich über neun Milliarden Euro. Mit dem Klimaschutzprogramm werden die Mittel für den ÖPNV in den kommenden Jahren aufgestockt. Darüber hinaus erhöht der Bund die Regionalisierungsmittel 2020 einmalig um 2,5 Milliarden Euro, um die Auswirkungen der Coronapandemie abzufedern. Dies teilt das Verkehrsministerium auf OBM-Nachfrage mit.)

OBM: Im August startete die Kampagne #BesserWeiter, um die Menschen zum Wiedereinstieg in Bus und Bahn zu animieren. Seitdem erleben wir einen Anstieg der Infektionszahlen, der das Kampagnenziel konterkariert. Hat die Kampagne damit ihr Ziel verfehlt?

Ingo Wortmann: Ziel der Kampagne ist, das Vertrauen in den ÖPNV zu stärken. Die „Bekenner-Botschaften“ zahlen unabhängig von einzelnen Infektionswellen darauf ein. Wir stellen derzeit auch fest, dass das veränderte Infektionsgeschehen nicht direkt gekoppelt ist mit der Fahrgastnachfrage. Einerseits, das muss man sehen, gibt es infolge der neuerlichen pandemiebedingten Beschränkungen weniger Fahrtanlässe und sicher auch neue Verunsicherung. Andererseits halten uns die Stammkunden die Treue. Wir haben einen Vertrauensindex für Bus und Bahn eingeführt: Die Zahlen zeigen, dass die Menschen den Verkehrsunternehmen und den geltenden Regeln im Grundsatz vertrauen. Da müssen wir ansetzen. Um mehr Vertrauen und damit Fahrgäste zurückzugewinnen, leistet die Kampagne ihren Beitrag zur Aufklärung und Information. Anders als teilweise behauptet und berichtet wird, sind Bus und Bahn kein Coronabrennpunkte. Zahlreiche Untersuchungen bestätigen das inzwischen.

„Die begonnene Verkehrswende konsequent weiter umsetzen“

OBM: Welches ist Ihr Ausblick? Wie verändert sich der ÖPNV? Worauf sollten sich gerade Kommunen als Träger zahlreicher Verkehrsunternehmen einstellen?

Ingo Wortmann: Zunächst mal empfehle ich uns allen einen langen Atem, denn auch 2021 wird voraussichtlich nur schrittweise eine Entspannung der Covidlage bringen. Die Fahrgastzahlen werden sich nur langsam wieder an das gewohnte Niveau annähern. Wir müssen uns auf die Zeit nach Corona vorbereiten, also die begonnene Verkehrswende hin zu mehr ÖPNV, Fahrrad und Fußverkehr konsequent weiter umsetzen. Für den ÖPNV heißt das: bauen, modernisieren, mehr Angebot, aber zunächst vor allem planen. Nicht zuletzt: Alle Akteure, gerade auf kommunaler Ebene, haben bewiesen, dass wir Krisen bewältigen können. So sollten wir weitermachen. Wir brauchen jetzt die Rezepte für die Zeit nach der Krise.

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