Die Bundesförderung von fünf Modellstädten, um Maßnahmen für eine höhere Luftreinheit zu erarbeiten, soll um ein halbes Jahr bis 30. Juni 2021 verlängert werden. Dem muss der Deutsche Bundestag, was die diesbezüglichen Haushaltsmittel betrifft, noch zustimmen.
Modellstädte: Coronakrise erschwert Evaluation der Projekte
Die Coronakrise habe „große Auswirkungen auf den ÖPNV und damit auch auf die Maßnahmen des Modellstadtprogramms“, teilt ein Sprecher des Bundesverkehrsministeriums auf Nachfrage der OBM-Zeitung mit. Während des Lockdowns im Frühling 2020 sind die Fahrgastzahlen der deutschen Verkehrsbetriebe auf circa 10 bis 30 Prozent im Vergleich zu Referenzwerten abgesunken. Dieser und andere Sondereffekte durchkreuzen offenbar die Belastbarkeit der Daten zur Evaluierung des Erfolgs einzelner ÖPNV-Maßnahmen in den Modellstädten, was das Fahrgastaufkommen betrifft. Die Verlängerung des Programms solle sicherstellen, dass die Evaluation der Maßnahmen zu aussagekräftigen Ergebnissen kommt, heißt es aus dem Verkehrsministerium.
2018 hat der Bund rund 130 Millionen Euro bereitgestellt, um modellhafte Verkehrsprojekte umzusetzen, die den ÖPNV attraktiver machen und die Luftqualität vor Ort verbessern sollen. (Das Foto oben zeigt Bundesumweltministerin Svenja Schulze, Verkehrsminister Andreas Scheuer und die Vertreter der Städte beim Start des Förderprogramms in Berlin; von links). Gefördert wurden Maßnahmen, die schnell bis 2020 umsetzbar und wirksam sind. Der Bund übernimmt durchschnittlich 95 Prozent der Gesamtkosten für die einzelnen Projekte.
Dafür ausgewählt wurden die Modellstädte Bonn, Essen, Herrenberg, Mannheim und Reutlingen. Die Projekte werden wissenschaftlich begleitet. Es geht auch um Ansätze für die Mobilität der Zukunft in Städten.
Modellstädte: schnell umsetzbare ÖPNV-Lösungen für Luftreinheit
Die Förderung steht im Kontext der Debatte um Luftreinheit. Hintergrund des Modellprogramms ist der Umstand, dass 2017 in einigen deutschen Städten EU-weit gültige Grenzwerte für NO2 nicht eingehalten wurden und Fahrverbote drohten. Die Feldforschung in den Modellstädten hat die Bundesregierung der EU-Kommission als eine Maßnahme vorgeschlagen, um der hohen Luftbelastung gegenzusteuern. Darüber hinaus erfuhren die Vorhaben in den Modellstädten zwischenzeitlich eine zusätzliche Aufmerksamkeit durch die Debatte um Klimaschutz und CO2-Reduktion.
Bislang liefen die ÖPNV-Maßnahmen in den Modellstädten „sehr gut“, teilt das Verkehrsministerium auf Nachfrage mit. Insbesondere Tarifmaßnahmen wie ein 365-Euro-Jahreticket hätten „sehr schnell nach Beginn des Programms umgesetzt werden“ können. Es zeige sich, dass die Tarifmaßnahmen „insbesondere in Kombination mit einer Angebotsausweitung gut angenommen“ würden. Maßnahmen der Angebotsausweitung, des Infrastrukturausbaus oder der Verkehrslenkung, die erst entwickelt werden mussten, benötigten allerdings teils länger zur Umsetzung. Eine in Herrenberg entwickelte Mobility App erfahre schon jetzt Nachfrage aus anderen Kommunen, so der Ministeriumssprecher.
Beispiel Mannheim: Angebot wichtigeres Kriterium als Preis
Im Herbst 2019 – also noch vor der Coronakrise – zog der Mannheimer Bürgermeister Christian Specht, zuständig für den ÖPNV vor Ort, bei einer Pressekonferenz in der Neckarstadt ein Zwischenfazit bezüglich der Modellstadtprojekte. Die wichtigsten Erkenntnisse damals: „Wenn wir nachhaltigen Erfolg im ÖPNV haben wollen, müssen wir das Angebot verbessern“, so Specht damals.
Der Fahrpreis sei lediglich „ein Kriterium, aber nicht das entscheidende“ für die Abkehr vom Automobil. Es komme vor allem darauf an, wie zuverlässig, dicht getaktet, komfortabel und flexibel der ÖPNV für die Fahrgäste agiere. Und: Die Digitalisierung könne dazu beitragen, neue Nutzergruppen für den ÖPNV zu erschließen. Dabei betonte Specht auch die Notwendigkeit einer regionalen Betrachtung von Verkehrsbezügen.
Im Zusammenhang mit der Bundesförderung setzte die Stadt Preisanreize zum Umstieg auf den ÖPNV. In Sachen Digitalisierung hat Mannheim zudem modellhaft einen „eTarif“ entwickelt, dessen Grundpreis ebenfalls als Modellprojekt um mehr als ein Drittel reduziert war. Dabei handelt es sich um eine App, mit der Fahrgäste flexibel jegliche Bus- oder Bahnlinie nutzen können – abgerechnet wird digital und nur die zwischen zwei Zielen zurückgelegte Luftlinie.
Info: Das geschah bis zur Coronakrise in den Modellstädten
Im Herbst 2019 fragte die OBM-Zeitung bei den Modellstädten nach, welche Maßnahmen sie im Zusammenhang mit der Förderung umsetzen. Das Spektrum reichte vom 365-Euro-Ticket über den Ausbau eines neuen Stadtbusnetzes, den Ausbau der Fahrradinfrastruktur bis hin zu digitalen Lösungen. Die Coronakrise und die damit verbundenen Verwerfungen des Fahrgastaufkommens machen den Erfolg der Maßnahmen nur schwer messbar. Die Evaluation folgt. Hier ein Überblick über die Ergebnisse der Umfrage aus dem Herbst 2019 und die damals angelegten Maßnahmen aus dem OBM-Archiv.
Essen: „Die Sofortmaßnahmen aus dem Programm ,Lead Cities‘ sollen dabei helfen, schnell mehr Bürger vom Umstieg auf den ÖPNV und das Rad zu überzeugen“, sagt Oberbürgermeister Thomas Kufen aus Sicht der Stadt Essen. Als „Modellstadt zur Luftreinhaltung“ gibt es in Essen nicht nur vergünstigte Tarife, sondern auch eine Taktverdichtung in der Hauptverkehrszeit auf ausgewählten ÖPNV-Strecken innerhalb des Stadtgebiets. Neben den ÖPNV-Maßnahmen investiert die Stadt zusätzlich in ihr Radverkehrsnetz. Im Zuge des Modellstadtprojekts werden drei neue Fahrradachsen umgesetzt. Kufen fordert: „Eine Anschlussfinanzierung der Maßnahmen nach dem Jahr 2020 muss sichergestellt werden, um die erreichten Ziele auch dauerhaft fortschreiben zu können.“
Reutlingen: „Zehn neue Buslinien, über 100 neue Haltestellen, sechs statt vier Millionen Fahrplankilometer und 271.000 Fahrplanstunden“: Der Reutlinger Oberbürgermeister Thomas Keck schwärmt vom neuen Stadtbusnetz, das zum 9. September 2019 in Betrieb ging. Die Stadt baut ihren ÖPNV massiv aus. „Bislang sind die Fahrpläne der Nachfrage gefolgt, jetzt steht das Angebot an erster Stelle“, spricht Keck von einem Paradigmenwechsel in der ÖPNV-Planung. Das neue Stadtbuskonzept ist wesentlicher Teil der Modellstadtmaßnahmen in Reutlingen. Zudem ist hier bereits im Januar 2019 ein 365-Euro-Jahresticket gestartet.
Herrenberg: Herrenberg setzt unter anderem auf eine dynamische Verkehrslenkung, neue Linien und günstigere Tarife im ÖPNV sowie eine digitale Mobilitätsplattform. Was die Verkehrslenkung betrifft, soll diese den Verkehrsfluss verstetigen und häufiges Bremsen oder Beschleunigen reduzieren. Unter anderem kommen sogenannte Geschwindigkeitsbeeinflussungsanlagen zum Einsatz, die je nach Verkehrslage eine daran angepasste Geschwindigkeit vorgeben. 55 mit Messmodulen ausgestattete Fahrzeuge evaluieren dafür das Fahrverhalten in der City. Der Radverkehr wird durch neue Radfahrstreifen gefördert; Ähnliches gilt für Fußwege. Zur zeitgleichen Verbesserung des ÖPNV kommt auf einer hochfrequentierten Linie ein zusätzlicher Bus zum Einsatz. Eine zusätzliche abendliche Linie erweitert das ÖPNV-Angebot. Außerdem gibt es im Rahmen der Modellstadtprojekte vergünstigte Fahrpreise. Darüber hinaus startete Ende 2019 in Herrenberg eine digitale Mobilitätsplattform, mit deren Hilfe der Nutzer seine Strecke intermodal mit verschiedenen Mobilitätsarten kombiniert planen kann.
Bonn: Die Stadt Bonn verbessert ihr ÖPNV-Angebot durch neue Linienführungen und Taktverdichtungen. Zudem macht die Bundesstadt neue Tarifangebote, etwa das 365-Euro-Jahresticket für Neukunden oder ein 24-Stundenticket für fünf Personen zum bisherigen Preis für eine Person. Zudem betont die Bundesstadt die Bedeutung von Marketingmaßnahmen, um diese Angebote zu kommunizieren. Außerdem sucht sie mit Blick auf den Pendelverkehr Kontakt zu Unternehmen; dies auch mit Ticketangeboten für Mitarbeiter. Hier zeige die Erfahrung, dass Kriterien wie die Mindestabnahme von Ticketkontingenten in Betrieben oder die Befürchtung von Unternehmen, nach Ablauf des Förderzeitraums das Ticket im eigenen Betrieb nicht mehr preislich reduziert anbieten zu können, den Absatz hemmten.