Die Städte sind entscheidend für die Mobilitätswende. Welche Effekte hat die Coronakrise darauf vor Ort? OBM antworten.

Die Coronakrise verändert das Verkehrsverhalten der Menschen gravierend. Das erfahren die Städte unmittelbar vor Ort, wie eine – freilich nicht repräsentative – Umfrage unter deutschen OBM zeigt. Alle Stadtlenker bekennen sich auch in der Krise zur Mobilitätswende. Dabei machen sie jedoch ebenso negative Effekte deutlich, die die Coronakrise auf die Mobilitätswende vor Ort hat. Wie nachhaltig diese wirken, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwar noch ungewiss. Doch sie zeigen Trends auf, die zumindest die mittelfristige Mobilitätsentwicklung prägen.

Drei Effekte der Coronakrise auf die Mobilitätswende vor Ort

1. Kollektive Mobilitätsformen und ÖPNV brechen ein

Insbesondere der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) ist massiv von der Coronakrise betroffen: Die Maßnahmen gegen die weitere Verbreitung der Pandemie führen dazu, dass viele Menschen Zusammenkünfte meiden – auch im ÖPNV. Damit verbundene Einbrüche der Fahrgastzahlen könnten langfristig sogar Finanzierungsmodelle infrage stellen und bedeuten für die meist kommunalen ÖPNV-Betriebe ein Risiko. Beispielsweise brachen in Essen zu Beginn der Pandemie die Fahrgastzahlen auf 20 Prozent ein.

„Corona wird den ÖPNV über Jahre belasten“, schätzt OBM Katja Wolf aus Eisenach. Dies stehe der wichtigen Mobilitätswende entgegen und schwäche den Umweltverbund, also das Zusammenspiel der Mobilitätsformen abseits des eigenen Automobils.

Trotzdem oder gerade deswegen bekennen sich die Oberbürgermeister zum ÖPNV. „Ein funktionierender ÖPNV ist das Rückgrat einer funktionierenden Verkehrswende“, sagt OBM Thomas Kufen aus Essen. Es gelte, den ÖPNV „günstiger, attraktiver und flexibler zu gestalten“, um den Negativeffekten der Cronakrise auf die Verkehrswende gegenzusteuern, so Wolf. Auch OBM Gert-Uwe Mende aus Wiesbaden will die Mobilitätswende und die Leistungsfähigkeit des ÖPNV in seiner Stadt weiter forcieren – alles andere wäre „völlig falsch“, sagt er.

2. Individuelle Mobilität liegt im Trend – auch das Fahrrad

Mit den rückläufigen Fahrgastzahlen im ÖPNV geht ein Trend zu individueller Mobilität einher. Dieser muss aber den ökologischen Zielen der Mobilitätswende keineswegs gänzlich widersprechen. Zwar gewinnt das eigene Automobil im Stadtverkehr an Relevanz. „Der eigene Pkw stellt für viele Menschen noch häufiger das Top-Fortbewegungsmittel dar“, sagt Wolf. Doch der Trend zu individueller Mobilität spiegelt sich nicht nur im Bereich des Automobils, sondern gleichzeitig auch in den Bereichen der Fußläufigkeit und des Radverkehrs wider.

Dass der Radverkehr durch die Coronakrise an Zuspruch gewinnt, schlägt sich mancherorts sogar unmittelbar städtebaulich nieder. OBM Dieter Reiter aus München verweist exemplarisch auf temporäre Radwege – sogenannte Popupradwege –, die ein städtebaulicher Ausdruck des zusätzlichen Radverkehrsaufkommens sind. (Das Foto oben zeigt einen solchen Radweg, der in den Sommermonaten temporär in Düsseldorf eingerichtet wurde.) Genauso ist für Kufen aus Essen dieser Trend ein motivierender Aspekt, um die örtliche Fahrradinfrastruktur weiterzuentwickeln.

Zwar meint Wolf, dass zumindest bis dato die Negativeffekte der Coronakrise auf die Mobilitätswende die Positiveffekte überwiegen. Allerdings sieht auch sie das Potential sowie die Notwendigkeit, die Bereiche des Fuß- und des Radverkehrs zu stärken: „Der Fuß- und Radverkehr muss in der Stadt als Fortbewegungsmittel Nummer Eins konsequent gefördert werden.“

3. Weniger Verkehrsaufkommen durch die Digitalisierung

Was den ökologischen Zielen der Mobilitätswende wenigstens entgegenkommt, ist die Digitalisierung der Arbeitswelt. Neue, digitalbasierte Arbeitsmodelle wie Homeofficelösungen oder Videokonferenzen haben während der Coronakrise einen Auftrieb erfahren. Dies hat spürbare Effekte etwa auf den Pendlerverkehr oder die Häufigkeit von Dienstreisen. Hier verzeichnen die Oberbürgermeister in ihren Städten durchaus ein Abflachen, was das Verkehrsaufkommen betrifft.

Dieser Effekt war insbesondere im ersten Halbjahr 2020 spürbar. Wie nachhaltig er ist, bleibt offen. Dass er sich verfestigt, wünscht sich OBM Matthias Knecht aus Ludwigsburg. So könne die Digitalisierung der Arbeitswelten in einer Smart City dazu beitragen, die Verkehrsinfrastruktur zu entlasten und Emissionen zu reduzieren. Wie für alle Auswirkungen gelte auch hier: „Für eine abschließende Bewertung ist es noch zu früh.“

Das sagen OBM zur Mobilitätswende in der Coronakrise

OBM Dieter Reiter aus München (Quelle: Landeshauptstadt München/Michael Nagy)

OBM Dieter Reiter aus München (Quelle: Landeshauptstadt München/Michael Nagy)

OBM Dieter Reiter, München: Durch die Coronakrise sind die Fahrgastzahlen im ÖPNV stark zurückgegangen, und das Bedürfnis nach dem eigenen Auto ist gestiegen. Gleichzeitig hat durch den hohen Anteil von Homeoffice am Arbeitsleben das gesamte Verkehrsgeschehen zumindest zeitweilig abgenommen. Und es sind auch immer mehr Münchner auf das Fahrrad umgestiegen. So konnten wir Platz schaffen für temporäre Popupradwege, Schanigärten und Sommerstraßen. Ob Corona die Verkehrswende langfristig beeinflusst, wird sich erst zeigen.

OBM Katja Wolf aus Eisenach (Quelle: Stadt Eisenach/Flashlight Tobias Kromke)

OBM Katja Wolf aus Eisenach (Quelle: Stadt Eisenach/Flashlight Tobias Kromke)

OBM Katja Wolf, Eisenach: Die kurzfristigen positiven Effekte durch Corona, weniger Verkehr für mehrere Wochen und Monate im Frühjahr 2020, sind kurz- und mittelfristig durch eine Vielzahl negativer Erscheinungen wettgemacht. Corona hat der Verkehrswende bis jetzt nicht geholfen, ganz im Gegenteil. Corona wird den ÖPNV über Jahre belasten – vor allem durch finanzielle Verluste: Der ÖPNV hat vor Corona „geboomt“, und nun ist der Vertrauensverlust in ihn immens. Das Fahrrad als alleiniges Transportmittel ist für viele nicht ausreichend – bisher sprach man daher auch von einem „Umweltverbund“, mit dem man die Mobilitätsbedürfnisse ohne Auto befriedigt. Aufgrund der Angst, den ÖPNV und Schienenpersonenverkehr (SPV) zu nutzen, fehlt im Umweltverbund plötzlich ein Baustein. Die Alternative ist allein das Auto. Die anstehende Erhöhung der Ticketpreise im ÖPNV und SPV steht, aufgrund gesunkener Nachfrage der Wirtschaft nach Öl, den deutlich gesunkenen Spritpreisen gegenüber. Auf diese Weise ist das Autofahren faktisch durch Corona sogar deutlich günstiger geworden. Der eigene Pkw stellt für viele Menschen noch häufiger das Top-Fortbewegungsmittel dar, und der wahre Preis der Autonutzung wird auch jetzt nicht gezahlt. Radverkehr im Alltag sollte eigentlich boomen, aufgrund fehlender flächendeckender Angebote in Eisenach bleibt der Boom aus.‎ Maßnahmen zum Gegensteuern wären: den ÖPNV günstiger, attraktiver und flexibler zu gestalten; der Fuß- und Radverkehr muss in der Stadt als Fortbewegungsmittel Nummer Eins konsequent gefördert werden. Innenstädte müssten mehr vom Autoverkehr befreit werden, um Wohnen in der Stadt attraktiv zu gestalten.

OBM Gert-Uwe Mende aus Wiesbaden (Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden/Angelika Aschenbach)

OBM Gert-Uwe Mende aus Wiesbaden (Quelle: Landeshauptstadt Wiesbaden/Angelika Aschenbach)

OBM Gert-Uwe Mende, Wiesbaden: Gerade unter den aufgrund der Coronapandemie erschwerten Bedingungen ist ein leistungsfähiger ÖPNV gefordert, der Sicherheit und Zuverlässigkeit verbindet. Völlig falsch wäre es, wegen der Pandemie die Verkehrswende zu vernachlässigen. Mit der Schaffung neuer Radwege, Busspuren und Fußgängerzonen, aber auch bei der Taktverdichtung von Bus- und Bahnverbindungen bleibt Wiesbaden am Ball.

OBM Thomas Kufen aus Essen (Quelle: Stadt Essen/Ralf Schultheiss)

OBM Thomas Kufen aus Essen (Quelle: Stadt Essen/Ralf Schultheiss)

OBM Thomas Kufen, Essen: Wie in vielen Städten wurde auch in Essen insbesondere der ÖPNV von der Coronakrise getroffen. Die Fahrgastzahlen lagen zu Beginn der Coronapandemie bei nur noch etwa 20 Prozent, im Juni wieder bei 60 bis 70 Prozent und in September bis Anfang Oktober bei durchschnittlich 80 bis 90 Prozent. Ein funktionierender ÖPNV ist aber das Rückgrat einer funktionierenden Verkehrswende. Deshalb haben wir diesen unter anderem mit Mitteln von Bund und Land gestärkt – mit Taktverdichtungen, vergünstigten Tickets sowie einer erneuerten Flotte. Gleichzeitig haben insbesondere in den warmen Monaten viele Essener mehr Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt. Diesen Trend stärken wir mit dem Ausbau unserer Fahrradinfrastruktur vor allem im Hauptroutennetz.

OBM Matthias Knecht aus Ludwigsburg (Quelle: Stadt Ludwigsburg/Andreas Dalferth)

OBM Matthias Knecht aus Ludwigsburg (Quelle: Stadt Ludwigsburg/Andreas Dalferth)

OBM Matthias Knecht, Ludwigsburg: In der Coronazeit wechseln Menschen vom öffentlichen Verkehr auf den Individualverkehr. Das ist gut, wenn der Wechsel zum Fahrrad erfolgt; aber schade, wenn vermehrt auf das Auto gesetzt wird. Wir müssen den Trend zum Fahrrad verstärken und das Vertrauen in den öffentlichen Verkehr zurückgewinnen, damit er an seine Erfolge der letzten Jahre anschließen kann. Für eine abschließende Bewertung ist es zu früh – wünschenswert wäre, dass Homeoffice und Videokonferenzen einen festen Platz finden und der Verkehr so verringert wird.

OBM Bernd Vöhringer aus Sindelfingen (Quelle: Stadt Sindelfingen/Benjamin Knoblauch)

OBM Bernd Vöhringer aus Sindelfingen (Quelle: Stadt Sindelfingen/Benjamin Knoblauch)

OBM Bernd Vöhringer, Sindelfingen: Vor der Coronakrise haben wir bereits große Schritte bezüglich der Verkehrswende unternommen, so haben wir den ÖPNV massiv ausgebaut und eine Radverkehrskonzeption verabschiedet, an deren Umsetzung wir derzeit arbeiten. Die Coronakrise hat zu einem drastischen Rückgang der Fahrgastzahlen im ÖPNV geführt, was leider genau zu dem Zeitpunkt kam, als wir unser Angebot stark ausgeweitet hatten. Wenn Abstandsregelungen langfristig unser Leben prägen werden, besteht tatsächlich das Risiko, dass dies negative Auswirkungen auf die Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs hat. Andererseits gibt es aber natürlich auch entsprechende Chancen für den Radverkehr, an dem wir engagiert weiterarbeiten.

OBM Margit Mergen (Quelle: Stadt Baden-Baden/Foto Christiane)

OBM Margret Mergen (Quelle: Stadt Baden-Baden/Foto Christiane)

OBM Margret Mergen, Baden-Baden: Baden-Baden war bis zur Coronakrise auf dem Weg zu einer Verkehrswende gut aufgestellt. Hin zu einer klimafesten und menschengerechten Mobilität wurden der Stadtverkehr im Rahmen des Klimaaktionsplans und verschiedener Konzepte (Busspur, Reisebusse) verstärkt in den Fokus gerückt sowie Verbesserungen des ÖPNV, der Ausbau der E-Mobilität und die Digitalisierung zur Lenkung der Verkehrsströme vorangetrieben. Durch die Coronakrise ist durch Schulschließungen, mehr Homeoffice, weniger Berufs- und Reiseverkehr eine deutliche Verkehrsabnahme – verbunden mit einer Zunahme des Radverkehrs und Verlagerung vom ÖPNV zurück in die PKW – feststellbar. Baden-Baden ist wegen seiner hohen touristischen Bedeutung und vieler Veranstaltungen hier besonders schwer getroffen, jedoch schärft die Krise den Blick auf die wesentlichen Prioritäten hin zu einer lebenswerten und menschengerechten Stadt. Nach Ende der Coronakrise wird Baden-Baden mit innovativen Lösungen die Verkehrswende vorantreiben und hier insbesondere an einer Verbesserung des Radverkehrs- und des ÖPNV-Anteils arbeiten, um die Stadt als attraktiven Wirtschafts- und Lebensraum zu stärken.

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