Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, schlägt einen „Green Deal“ vor: Bis 2050 möchte sie die EU klimaneutral machen. Die norddeutsche Stadt Flensburg ist längst auf dem Weg dorthin – mit einer ambitionierten Klimaschutzstrategie. Im Interview mit der OBM-Zeitung spricht sich Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange sogar dafür aus, die Klimaneutralität bis 2030 zu erreichen. Wie soll das gehen?
OBM Simone Lange plädiert: Flensburg bis 2030 CO2-neutral
OBM: Frau Lange, die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat unlängst das Ziel ausgerufen, Europa bis 2050 zum klimaneutralen Kontinent zu machen. Nachhaltigkeit und das Ziel der CO2-Neutralität mit Perspektive 2050 werden in Flensburg schon seit über zehn Jahren verfolgt. Wir kam es zu der Zielsetzung?
Simone Lange: Letztendlich stellten wir uns vor Ort die Frage, ob wir dieses so essentielle Thema – den Klimaschutz – der großen Politik überlassen, oder ob wir als Kommune selbst einen Beitrag dazu leisten. In Flensburg ist die Sensibilität dafür auch deswegen besonders hoch, weil wir als Wissenschaftsstandort mit der Europa-Universität meinungsstarke Akteure wie den Klimaforscher Olav Hohmeyer vor Ort haben. Uns ist schon lange klar, dass es dringend an der Zeit ist zu handeln. Aus diesem Gedanken heraus haben wir kommunale Strategien und Ziele für den Klimaschutz entwickelt. Aktuell möchte ich anregen, dass wir unser Ziel nachschärfen und die CO2-Neutralität bereits 2030 erreichen. Darüber gibt es noch keinen politischen Beschluss, doch ich plädiere dafür und möchte eine entsprechende Diskussion anstoßen.
OBM: Wie realistisch ist überhaupt, 2050 als Stadt CO2-neutral zu sein? Und nun 2030 – wie schaffen Sie das?
Simone Lange: Wir sortieren, was den Klimaschutz angeht, das kommunale Handeln in vier Sektoren: Mobilität, Industrie, Haushalt und Gewerbe. Jeder der Sektoren muss seinen Beitrag zum Einsparen von CO2 leisten. Dabei kommt uns zugute, dass 96 Prozent der Flensburger Haushalte an das Fernwärmenetz der Stadtwerke angeschlossen sind. Über die Stadtwerke, ein zu 100 Prozent kommunales Unternehmen, können wir also die Energiewende fast flächendeckend steuern. So haben wir den Kohleausstieg beschlossen und können damit in der Energieversorgung große Mengen an CO2 einsparen.
Stadtwerke als Steuerungsinstrument für Klimaschutz
OBM: Die Stadtwerke dienen Ihnen also als Steuerungsinstrument?
Simone Lange: Als ein sehr wichtiges. Deswegen halten wir sie in kommunaler Hand. Dasselbe gilt übrigens für den Sektor Mobilität und die Aktiv Bus Flensburg GmbH im Bereich des ÖPNV. Hier können wir als Kommune selbst steuern. Dazu gehört, dass wir dafür bereit und handlungsfähig sind, in die jeweilige Infrastruktur zu investieren. Ohne diese Unternehmen könnten wir die Klimawende nicht schaffen. Mit ihnen können wir in die Zukunft investieren.
Paradigmenwechsel: von der autogerechten zur klimagerechten Stadt
OBM: Sie haben den Sektor Mobilität angesprochen. Welche Aspekte sind hier die wesentlichen für Ihre Klimaschutzziele?
Simone Lange: Wir wollen die Mobilitätswende in Flensburg. Das Vorhaben ist sehr ambitioniert, denn nicht nur in Flensburg orientierten sich die Verkehrsplanung und der Städtebau in den vergangenen 50 Jahren an der Maxime einer autogerechten Stadt. Hier müssen wir den Paradigmenwechsel hin zur klimagerechten Stadt schaffen. Der ÖPNV, der Fahrradverkehr und die Fußgänger müssen in der Konkurrenz zum Automobil im Wortsinn Vorfahrt haben. Dieser Gedanke soll sich auf die Verkehrsgestaltung der Stadt auswirken. Dabei setzen wir auch auf neue Mobilitätsformen, etwa auf Carsharingangebote oder Hybridbusse. Ich bin übrigens eine der wenigen deutschen OBM, die mit einem komplett CO2-neutralen Dienstwagen, einem Wasserstoffauto, fahren.
OBM: Wie erleben Sie denn die Fahrt im Wasserstoffauto? Und ist dies ein Beispiel, an dem Sie selbst erzählen können, woran es noch hakt in der Verkehrswende?
Simone Lange: Der Fahrkomfort ist großartig, es ist ein schwebendes Gefühl. Wo es noch hakt, zeigt sich daran aber auch: Es sind tatsächlich die Infrastruktur und das Werkstättennetz, die noch dürftig sind. Wir haben nur eine Tankstelle, die nächste ist in Hamburg. Ich komme zwar mit einer Tankladung etwa 350 Kilometer weit, das reicht bis nach Hamburg – ich wünsche mir dennoch mehr Reserve, mehr Reichweite und mehr Tankmöglichkeiten. Es ist das klassische Henne-Ei-Problem: Braucht es eine bessere Infrastruktur, um Nachahmer zu finden, oder braucht es mehr Nutzer, um eine bessere Infrastruktur wirtschaftlich zu machen? Zudem ist der Anschaffungspreis des Wagens noch sehr hoch – wir haben ihn geleast –, das könnte eine Hürde sein.
Konsens für den Klimaschutz in der Stadtgesellschaft
OBM: Die Stadtverwaltung alleine kann Flensburg aber nicht CO2-neutral machen. Was müssen Sie tun, um die Stadtgesellschaft zu mobilisieren und auf das gemeinsame Ziel einzuschwören?
Simone Lange: Die Bewusstseinsarbeit ist wesentlich. Es ist notwendig, dass der Klimaschutz in jedem Kopf ankommt. Ein wichtiger Baustein dafür ist der Verein Klimapakt Flensburg, der seit über zehn Jahren Verwaltung, Wirtschaft sowie Bürgerschaft miteinander verbindet und Impulse für nachhaltige Klimaschutzprojekte gibt. In der Verwaltung haben wir außerdem drei hauptamtliche Klimamanager, und bei jeder Stadtentwicklungs- oder Baumaßnahme ist die Frage nach dem Klimaschutz ein fester Bestandteil des Procederes. Wir denken alles auch unter dem Kriterium des Klimaschutzes. In der Stadt sind viele bürgerschaftliche Initiativen entstanden, zuletzt eine, die alte Stoffbeutel in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wieder aufarbeitet und in Umlauf bringt, um so Plastiktüten zu reduzieren.
OBM: Was bringen solche Einzelbeispiele?
Simone Lange: Solche Vorbilder wirken in die ganze Stadt hinein. Es gilt, vom Reden ins Handeln zu kommen. Dies empfinde ich als eine Aufgabe von Kommunen beim Klimaschutz: Wir müssen in den Köpfen der Menschen etwas bewegen und somit vom Abstrakten ins Konkrete kommen. Die große Politik muss genauso ihre Arbeit leisten und etwa den gesetzlichen Rahmen für einen besseren Klimaschutz schaffen, doch wir dürfen nicht nur auf das Große gucken. Es geht um bürgerschaftliches Engagement und darum, die Menschen vor Ort davon zu überzeugen, in den Bus zu steigen, Stoffbeutel anstelle von Plastiktüten zu nutzen oder CO2 einzusparen.
CO2-Kompensation und urbanes Wachstum in Einklang bringen
OBM: Selbst wenn all Ihre Maßnahmen zur CO2-Einsparung führen – irgendwo fährt immer ein Auto, sogar in Flensburg. Wie wollen Sie denn dieses CO2, das auch weiterhin emittiert wird, „neutralisieren“?
Simone Lange: Tatsächlich geht es auch darum, Maßnahmen der CO2-Kompensation mitzudenken. Zum Beispiel entwerfen wir gerade einen neuen Flächennutzungsplan, um mehr Naturschutzflächen auszuweisen, als wir gerade verlieren. In einer wachsenden Stadt, die jährlich rund 1.000 neue Einwohner gewinnt, ist dies eine besonders spannende Aufgabe. Wir müssen also intelligenter bauen mit wenig Versiegelung, zum Beispiel in die Höhe, und unseren eigenen Flächenverbrauch reduzieren.
Die Bahn und ihre Rolle für den Klimaschutz
OBM: Sie haben die große Politik angesprochen, die auch Rahmenbedingungen für Lokales setzt. Gibt es etwas, dass Sie sich für Flensburg von ihr wüschen?
Simone Lange: Flensburg ist grundsätzlich sehr gut angebunden, was die überregionale Verkehrsinfrastruktur betrifft. Dennoch würde ich mir im Sinne des Klimaschutzes deutlich mehr Unterstützung von der Bundesgesellschaft Bahn wünschen. Als letzte deutsche Stadt im Norden auf der Strecke Hamburg–Kopenhagen kämpfen wir für einen Halt des IC. Ich halte es für unglücklich, dass große Metropolen an das IC-Netz angeschlossen sind, aber viele mittlere Städte nicht. Wenn man mehr Menschen für die Bahn begeistern möchte, muss sie für diese auch einen Halt machen. Zweitens plädiere ich dafür, die verschiedenen Fragestellungen in der Klimaschutzdiskussion differenzierter zu betrachten, als dies bisweilen der Fall ist. So gibt es zum Beispiel im Luftverkehr, der umweltpolitisch in der Kritik steht, auch innovative Ansätze, die gerade bei längeren Strecken als vernünftige Alternative dienen können. So etwas dürfen wir nicht ausblenden, wenn wir erfolgreich sein wollen. Hier lohnt der Blick aufs Detail statt eines Denkens in Schubladen.

In Flensburg unterwegs mit dem Wasserstoffauto: OBM Simone Lange mit dem Geschäftsführer des Technischen Betriebszentrums Heiko Ewen. (Quelle: Stadt Flensburg/Picasa)
Die Vision: Wie Flensburg CO2-neutral werden will
Die Stadt Flensburg möchte spätestens 2050 klimaneutral sein. Ein wesentlicher Akteur bei der Realisierung dieses Ziels ist der Verein Klimapakt Flensburg. Bereits seit 2008 engagiert er sich vor Ort als Plattform für klimabezogenes Handeln. Auch mit diesem breiten Ansatz gilt die Stadt, die Gründungsmitglied des Vereins ist, in der kommunalen Familie als eine Vorreiterin in Sachen Klimaschutz.
Erfolgsfaktor 1: Der Klimapakt als organisatorische Basis
Die Mitglieder des Vereins haben sich dazu verpflichtet, in ihrem jeweiligen Einflussbereich das Ziel der CO2-Neutralität zu verfolgen. Der Klimapakt Flensburg fungiert dabei als vernetzende Organisation und initiiert zudem eigene Klimaschutzprojekte. Für die Stadt ist der Verein, in dem auch kommunale Unternehmen wie die Stadtwerke und eine Wohnungsbaugesellschaft vernetzt sind, ein wichtiges Instrument, wenn es darum geht, ihre Idee der Klimaneutralität in die Stadtgesellschaft zu tragen.
Erfolgsfaktor 2: Breites Engagement in der Stadtgesellschaft
Das gemeinschaftliche Engagement führte unter anderem dazu, in der knapp 100.000 Einwohner großen Kommune die kritische Masse für ein lokales Carsharing zu schaffen. Die Einbindung verschiedener Betriebe und von deren Flotten erzeugte dafür eine Grundauslastung und eröffnete dem Carsharing vor Ort eine wirtschaftliche Perspektive. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Flensburg die Stadtgesellschaft zum Umstieg auf den Umweltverbund motiviert.
Erfolgsfaktor 3: Realistisch erreichbare Ziele
Die Strategie auf dem Weg zur Klimaneutralität: Die Stadt verfolgt in Zwischenetappen realistisch erreichbare Ziele. Auf diese Weise wächst der Stellenwert einzelner Projekte für das große Ziele und damit auch die Motivation, gemeinsam am Klimaschutz zu arbeiten. Gleichzeitig gerät bei einzelnen Misserfolgen die übergeordnete Zielsetzung nicht aus dem Auge.
Erfolgsfaktor 4: Klimaschutz auf allen kommunalen Handlungsfeldern
Das Kriterium Klimaschutz spielt auf allen kommunalen Handlungsfeldern eine zentrale Rolle. Dies gilt etwa für die Energieversorgung durch die Stadtwerke genauso wie für die Verwaltung, die ein Solarkataster erarbeitet hat, um Gebäudeeigentümern die Eignung ihrer Dachflächen für den Einsatz von Fotovoltaik aufzuzeigen.
Erfolgsfaktor 5: Die Stadt als Treiber und Vorbild
Die Rolle der Stadt ist die eines Treibers. Sie geht an vielen Stellen mit gutem Beispiel voran – von der Energieeffizienz der eigenen Gebäude über die nachhaltige Ausstattung des kommunalen Fuhrparks bis hin zum Aufbau eines lokalen Pfandbechersystems zur Reduktion des Plastikmülls.
(Der Beitrag stammt aus der OBM-Zeitung, Ausgabe 1/20.)