Wilhelmshaven steht als „Energiedrehscheibe“ im Zentrum der deutschen Energiepolitik. Es geht um Unabhängigkeit von russischer Energie.

Der Ukrainekonflikt stellt die deutsche Energieversorgung in Frage. Die Abhängigkeit von russischer Energie, insbesondere Gaslieferungen, ist ein geopolitisches Problem. Wie die Energieversorgung der Zukunft sichern? Die Stadt Wilhelmshaven ist dafür in einer Schlüsselposition: Sie richtet einen Terminal ein, um demnächst Flüssiggas und perspektivisch Ressourcen für die emissionsfreie Energieproduktion wie Wasserstoff importieren zu können. Dies hat nationale Relevanz. Über die Rolle der Stadt, ihre Funktion als „Energiedrehscheibe 2.0“, den Bau des Terminals und die diesbezüglichen Risiken spricht Oberbürgermeister Carsten Feist mit #stadtvonmorgen.

Wilhelmshaven als „Energiedrehscheibe 2.0“

#stadtvonmorgen: Herr Feist, die Stadt Wilhelmshaven wird „Energiedrehscheibe 2.0“. Was bedeutet „Energiedrehscheibe“, und was bedeutet „2.0“?

Carsten Feist: „1.0“ bedeutet das, was Wilhelmshaven bereits seit Jahrzehnten darstellt, nämlich eine „Energiedrehscheibe“ für Steinkohle und Erdöl zu sein. Basis dafür ist unser Hafen, über den große Mengen umgeschlagen werden. „2.0“ bedeutet nun, in Wilhelmshaven auch die Energie der Zukunft umzuschlagen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen beziehungsweise die bestehende Infrastruktur dahingehend zu transformieren. Das heißt etwa, dass der in der Nordsee offshore produzierte Windstrom, der ans Land weitergeleitet wird, hier und in der Region ankommt. Das heißt auch, dass importierte Energieträger wie zum Beispiel Wasserstoff, die der emissionsfreien Energieversorgung dienen, hier eintreffen oder zwischengelagert werden.

#stadtvonmorgen: Der Ukrainekonflikt hat zu einer Abkehr von russischer Energie, insbesondere von russischen Gaslieferungen, geführt. Dynamisiert dies die von Ihnen beschriebene Transformation der „Energiedrehscheibe“ Wilhelmshaven?

Carsten Feist: Ja, radikal. Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass die Abhängigkeit von russischer Energie eine für die Bundesrepublik zentrale geopolitische Herausforderung ist. Es gilt, eine hochgefährliche Sackgasse zu verlassen. Im Übergang zu emissionsfreier Energie kann der Einsatz von Flüssiggas LNG hierfür eine Lösung sein. Der schreckliche Krieg hat Prozesse, die in diese Richtung zielen, nun massiv beschleunigt.

Es geht um die Energiesicherheit Deutschlands

#stadtvonmorgen: In Wilhelmshaven soll dafür ein Terminal ausgebaut werden. Was hat es damit auf sich?

Carsten Feist: Es geht um Anlagen, über die Flüssiggas und später Wasserstoff umgeschlagen werden kann. Dabei handelt es sich um Rohstoffe, die in der Bundesrepublik nicht verfügbar sind und daher importiert werden müssen. Die vorhandene Löschbrücke wird erweitert.

#stadtvonmorgen: Es ist ein Vorhaben von nationaler Dimension, was die Versorgungssicherheit betrifft. Wie ist dabei das Zusammenspiel von Kommune, Land und Bund? Wer hat welchen Hut auf?

Carsten Feist: Wir haben alle denselben Hut auf, und der heißt Energiesicherheit. Auf der Ebene der Genehmigungsverfahren allerdings liegt ein Teil der Genehmigungslast beim Land, ein Teil bei der Stadt. Dies betrifft das Thema Flüssiggas genauso wie die perspektivische Frage nach dem Import von Wassersoff. Hinsichtlich der Planungs- und Genehmigungsverfahren hängt beides miteinander zusammen. Insofern ist eine enge Absprache erforderlich. Die geschieht in einer Taskforce, einer Arbeitsgruppe. Die Abstimmung läuft sowohl auf der Ebene des Ministerpräsidenten, der Minister und des Oberbürgermeisters, als auch auf der Arbeitsebene.

Im ersten Quartal 2023 sollen Gastanker anlegen

#stadtvonmorgen: Die Abkehr von russischen Gaslieferungen sollte besser heute als morgen stattfinden. Der Zeitdruck ist hoch. Mit welchen Zeitfenstern rechnen Sie? Gibt es schon Termine?

Carsten Feist: Am 27. Februar hat Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag berichtet, dass in Wilhelmshaven ein solches Terminal gebaut werden soll. Ähnliches gilt für Brunsbüttel in Schleswig-Holstein. Kurz darauf hat mich der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil zu einem Gespräch darüber nach Hannover eingeladen. Das Ziel ist, dass im ersten Quartal 2023 erste Gastanker in Wilhelmshaven anlaufen. Insgesamt geht es um ein Importvolumen, das 20 Prozent der Gasmenge entspricht, die bislang aus Russland bezogen wird. Nach der Ankündigung des Bundeskanzlers verzeichnete die Stadt einen großen Zugewinn an Aufmerksamkeit. Damit einher geht aber auch ein Mehr an Verantwortung für die nationale Daseinsvorsorge.

#stadtvonmorgen: Sie sprachen davon, dass Sie sich von dem LNG-Terminal einen „Aufwind für die wirtschaftliche Entwicklung“ der Stadt und „Wertschöpfungsprozesse in Form von Unternehmensansiedlungen“ erhoffen. Was bedeutet das konkret? Welche neuen Zukunftsperspektiven ergeben sich für die Stadt?

Carsten Feist: Die Rede des Bundeskanzlers ist erst knapp zwei Monate her. Konkrete Ansiedlungen sind im Augenblick selbstverständlich noch nicht zu nennen. Wir gehen allerdings davon aus, dass sich im Umfeld der Anlandung Betriebe ansiedeln – etwa in den Bereichen Logistik und technischer Dienstleistungen, was Wartung und Reparatur von Maschinen betrifft, oder im Zusammenhang mit dem Handel, dem Einkauf und dem Verkauf von Energie. Perspektivisch erhoffen wir uns zudem neue Impulse bei Innovationen und Technologien im Zusammengang mit dem Thema Wasserstoff.

Hafentransformation im Kontext „Kohleausstieg“

#stadtvonmorgen: Die Stadt plant, mit dem Land dafür eigens eine neue Entwicklungsgesellschaft zu gründen. Was macht diese?

Carsten Feist: In einer Runde mit dem Ministerpräsidenten wurde die Idee besprochen, eine gemeinsame Entwicklungsgesellschaft einzurichten. Die soll als Art „Maschinenraum“ koordinierende Aufgaben übernehmen und als ein zentraler Ansprechpartner fungieren. Dabei geht es um Betriebsansiedlungen und das Marketing für Flächen – wir verfügen über ein Potential von rund 800 Hektar Fläche – sowie um rechtliche Fragen oder die Verfügbarkeit von Ersatzflächen für den Naturschutz. Im Sommer werden Details besprochen, im Herbst soll das Vorhaben konkreter werden.

#stadtvonmorgen: In welchen Beritt fällt denn der Hafenausbau, und wie soll dieser finanziert werden?

Carsten Feist: Für den Ausbau der Hafenanlagen ist insbesondere der Landeshafen relevant. Das Land beabsichtigt dafür, 40 Millionen Euro aus der Strukturförderung „Kohleausstieg“ zu entnehmen und diese um den erforderlichen Eigenanteil von fünf Millionen Euro zu ergänzen. In der Strukturförderung des Bundes stehen der Stadt Wilhelmshaven insgesamt 157 Millionen Euro zur Verfügung, um die mit dem Kohleausstieg verbundenen Transformationsaufgaben zu bewältigen. Das Land will die nun veranschlagten Mittel für den Hafenausbau später in den „Topf“ der Strukturhilfe zurückgeben. Am 4. Mai spricht der Stadtrat über dieses Finanzierungsmodell für das LNG-Terminal. Zur Sitzung kommen auch Vertreter der Landesregierung.

„Die größten Risiken auf der Zeitachse“

#stadtvonmorgen: Welches sind aus Ihrer Sicht die Risiken für die Realisierung des LNG-Terminals und den Aufbau der damit verbundenen Infrastruktur?

Carsten Feist: Aus Sicht der heutigen Gesetzeslage halte ich es für schwierig, die ambitionierten Zeitfenster einzuhalten. Ich gehe allerdings davon aus, dass der Bund die gesetzlichen Rahmenbedingungen schafft, damit dies gelingt. Entsprechend laufen einige Arbeiten, etwa die Vorbereitung des Baus einer Pipeline, bereits parallel. Die größten Bedenken habe ich hinsichtlich der Verzögerungen, die auftreten können, wenn es Klagen gegen das Vorhaben gibt. Wie werden die Gerichte entscheiden, wie viel Zeit werden sie sich für ihre Entscheidungen lassen? Die größten Risiken sehe ich auf der Zeitachse.

Info

Intensiv begleitet #stadtvonmorgen die Reaktionen der deutschen Städte auf den Ukrainekonflikt. Hier geht es zu den neuesten Entwicklungen aus kommunaler Perspektive.

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