Die Energiekrise bedroht auch kommunale Unternehmen. Ulrich Maly und Michael Riechel fordern vom Bund einen Schutzschirm für Stadtwerke.

Die russische Aggression und der Krieg in der Ukraine haben massive Auswirkungen auf den Energiemarkt. Davon betroffen sind auch Kommunen und ihre Stadtwerke. Über die derzeitigen Preissteigerungen und damit verbundene soziale Effekte, die Systemrelevanz der Stadtwerke und einen sich beschleunigenden Wandel von der zentralen zur dezentralen Energieerzeugung sprechen Ulrich Maly und Michael Riechel. Vom Bund fordern sie im Sinne der Systemstabilität angesichts der Turbulenzen im Energiemarkt einen Schutzschirm für die Stadtwerke. Die aktuellen Verwerfungen hätten an vielen Stellen Effekte auf die kommunale Daseinsvorsorge, sagen sie und weisen neben der Energieversorgung auch auf die sonstigen Aufgaben der betroffenen Stadtwerke, beispielsweise im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs, hin. Maly ist Aufsichtsratsvorsitzender der Thüga. Er war von 2002 bis 2020 Oberbürgermeister von Nürnberg und von 2013 bis 2015 Präsident des Deutschen Städtetags. Riechel ist Vorsitzender des Thüga-Vorstands.

Kommunen als Treiber der gesellschaftlichen Transformation

#stadtvonmorgen: Herr Dr. Maly, Herr Riechel, der Ukrainekonflikt führt zu Turbulenzen in den Energiemärkten. Doch bereits vor dem russischen Angriff zeichneten sich Preissteigerungen ab. Welchen Anteil hat denn der Ukrainekrieg in einer Gesamtschau, was die Preisentwicklung betrifft?

Ulrich Maly: Es ist schwierig, im Konjunktiv zu mutmaßen, wie die Entwicklung ohne den Ukrainekonflikt vonstattengegangen wäre. Mit der Transformation unseres Energiesystems, die etwa das Abschalten von Atomkraftwerken und die Abkehr von Braunkohle beinhaltet, ist zwangsläufig der Fokus auf die verbliebenen Energieträger, allen voran die Erneuerbaren Energien sowie Gas als Brückentechnologie, verbunden. Auch in diesem Zusammenhang wäre wohl mit einer Preissteigerung zu rechnen gewesen. Allerdings ist das, was wir jetzt erleben, bedingt durch den Krieg in der Ukraine und die geopolitischen Verwerfungen …

#stadtvonmorgen: … , die in den deutschen Kommunen für neue Herausforderungen sorgen. Städte arbeiten Energiesparpläne aus und richten angesichts des aufziehenden Energieengpasses sogar Krisenstäbe ein, in die auch die jeweiligen Stadtwerke eingebunden sind. Wie ist die Situation in den Städten?

Ulrich Maly: Die deutschen Kommunen sind seit Jahren – und ich spreche hier auch aus meinen Erfahrungen als Oberbürgermeister von Nürnberg sowie an der Spitze des Deutschen Städtetags – wesentliche Treiber der gesellschaftlichen Transformation. Sie stehen bei der Energiewende ganz vorne. Nachhaltigkeit und Energiesparen sind bei den Städten längst auf der Agenda. Dies betrifft auch kleine, teils intensiv diskutierte Maßnahmen – beispielsweise, dass es auf den Toiletten im Nürnberger Rathaus kein warmes Wasser mehr gibt. Auf solche Anstrengungen wirkt die aktuelle Situation wie ein Brandbeschleuniger. Es geht nicht nur darum, die Energieeffizienz noch konsequenter zu steigern, sondern viele der nun diskutierten Maßnahmen greifen auch in Komfortzonen ein. Ich denke etwa an das Senken der Wassertemperatur in Bädern oder die Diskussion um die Existenzberechtigung von Kulturveranstaltungen, die in historischen Gebäuden, deren energetische Situation oft unbefriedigend ist, stattfinden. Über solche Dinge zu sprechen hielt man bislang entweder nicht für nötig, oder es war nicht vermittelbar. Nun sorgt der Ernst der Lage für neue Blickwinkel. Umso mehr gilt es, die Bevölkerung dafür zu sensibilisieren. Denn städtisches Handeln ist Teil einer gesamtgesellschaftlichen Glaubwürdigkeit. Dabei ist allerdings auch festzustellen, dass Kommunen seit Jahren in Energiesparmaßnahmen investieren und manches davon uns jetzt einholt. In Nürnberg haben wir etwa den Betrieb eines Kraftwerks von Steinkohle auf Gas umgestellt und damit Hunderttausende Tonnen CO2 eingespart. Das zeigt: Vieles, was in der „alten“ Energiepolitik als der richtige Weg erschien – etwa der Einsatz von Gas als Brückentechnologie zu Erneuerbaren Energien –, steht heute in Frage.

Energiekrise bedroht über den Querverbund auch den ÖPNV

Ulrich Maly (Quelle: Stadt Nürnberg/Ludwig Olah)

Ulrich Maly (Quelle: Stadt Nürnberg/Ludwig Olah)

#stadtwerke: Die Energiekrise und die von Bundeskanzler Olaf Scholz sogenannte Zeitenwende sorgen also auch für einen Bewusstseinswandel und neue Koordinaten in den Städten. Aus Sicht der Kommunen richtet sich das Brennglas dabei nicht zuletzt auf die Stadtwerke als Versorger vor Ort. Wie ist denn die Stimmung in der Stadtwerkelandschaft?

Michael Riechel: Es geht weniger um die Stimmungslage als vielmehr um die konzentrierte und fokussierte Arbeit an drei zentralen Fragestellungen. Erstens: Wie sieht zukünftig die Versorgungslage Gas aus? Haben wir für die Heizperiode im Winter genügend Gas? Das ist ein dringendes, ernstzunehmendes Thema. Zweitens: Wie sieht die zukünftige Preisgestaltung, was Energie, insbesondere Gas und Strom betrifft, aus? Drittens: Mit welcher Erzeugungsstruktur decken wir mittel- und langfristig unseren Energiebedarf? Um die Versorgung kurzfristig zu sichern, ist es richtig, über die Rolle von Kohle nachzudenken – wenn dies auch im Spannungsfeld der Energiewende geschieht. Den Gasverbrauch um 15 Prozent zu reduzieren wird nur bedingt helfen. Ob wir genügend Gas haben, um durch den Winter zu kommen, hängt nicht zuletzt von den wetterbedingten Temperaturen ab. Dass Kommunen ihre Anstrengungen, den Energieverbrauch zu reduzieren, verstärken, ist ebenfalls ein wichtiges Zeichen – das allein reicht aber nicht aus. In der Gesamtschau zeigen sich jetzt die Konsequenzen einer allzu einseitigen Abhängigkeit von Russland als Energielieferant. Neben all den Themen der Versorgungssicherheit kommt auf die Stadtwerke und die Kommunen außerdem eine soziale, gesellschaftliche Diskussion hinsichtlich der Preisbildung zu. Dabei gilt es, die sozialen Effekte der Preissteigerung möglichst abzumildern und gleichzeitig dennoch wirtschaftlich zu arbeiten.

Ulrich Maly: Ich möchte den Gefühlsteil ergänzen: Den Stadtwerken geht es emotional schlecht. Wir verzeichnen massive Preiserhöhungen beim Einkauf von Energie. Das birgt das Problem, dass Menschen, die sich bislang ihr Gas leisten konnten, in Schwierigkeiten geraten könnten. Zwar stehen die Stadtwerke als Endversorger diesen Menschen gegenüber, sie können das Problem aber nicht lösen. Hier ist der Bund gefragt, um den explodierenden Preisen entgegenzusteuern. Zu der angespannten Lage kommt außerdem hinzu, dass viele kommunale Betriebe mit dem steuerlichen Querverbund zwischen der Energieversorgung und Bereichen wie dem öffentlichen Personennahverkehr große Teile ihres ÖPNV-Angebots finanzieren. Wenn nun auf der einen Seite Überschüsse wegfallen, bedroht dies das gesamte Geschäftsmodell und betrifft damit nicht zuletzt die Infrastruktur des ÖPNV. Insofern ist die Stimmung in vielerlei Hinsicht unsicher bis pessimistisch. Gleichwohl kommen die Stadtwerke ihrem Grundversorgungsauftrag nach, wenn dies auch unter deutlich schwierigeren Rahmenbedingungen geschieht. An vielen Stellen sehen wir Handlungsbedarf.

„Wir brauchen einen Schutzschirm für Stadtwerke“

Michael Riechel (Quelle: Thüga AG)

Michael Riechel (Quelle: Thüga AG)

#stadtvonmorgen: Stichwort: Handlungsbedarf. Sie haben die soziale Dimension der Energiekrise angesprochen. Was erwarten Sie diesbezüglich von Bund und Ländern? Und was hinsichtlich der strukturellen Herausforderungen im Energiemarkt?

Ulrich Maly: Was das Soziale betrifft, ist das bestehende Sicherungssystem eigentlich robust aufgestellt. Dass die Energieversorgung beispielsweise für SGB2-Empfänger Teil der Transferleistungen ist, nimmt ihnen angesichts der Kostensteigerungen den diesbezüglichen Druck. Kritisch wird es allerdings für die Gruppe der Menschen, die bislang keine Transferleistungen beziehen und die sich – im Zusammenwirken mit der derzeitigen Inflation – die Preissteigerungen insgesamt nicht mehr leisten können. Neben den vorhandenen Sozialsystemen wie SGB2 und Wohngeld wird es also zusätzliche Instrumente oder Erleichterungen brauchen, die diese Gruppe erreichen. Insgesamt ist noch unklar, auf welche Weise die Endverbraucher entlastet werden sollen. Dieser Unsicherheit ist hinsichtlich eines sich daraus möglicherweise ergebenden Nährbodens für Rechtspopulisten dringend entgegenzuwirken. Zu dieser Ungewissheit zählt, wie die Gasumlage, die ab dem 1. Oktober gilt und große Gasimporteure stützen soll, konkret umgesetzt werden kann. Einiges bleibt nebulös – beispielsweise eine Lösung für das Problem, das Endversorger hinsichtlich ihrer Festpreisverträge haben.

#stadtvonmorgen: Letzteres betrifft bereits die strukturellen Herausforderungen. Welches sind hier Ihre Kernanliegen an Bund und Länder?

Ulrich Maly: Wir brauchen einen Schutzschirm für Stadtwerke. Zudem muss die Insolvenzpflicht bei Liquiditätsproblemen ausgesetzt werden. Es gilt, die Stadtwerke als Endversorger durch diese schwierige Zeit zu bringen. Was die diesbezügliche Zuständigkeit betrifft, verweist das Bundeswirtschaftsministerium aktuell oft auf die Ebene der Länder. Das mag formal richtig sein, dieses Delegieren geht in der aktuell prekären Situation allerdings fehl. Denn die Stadtwerke haben in Summe eine nationale Relevanz. Ohne sie wären die Energiewende und gravierende, politisch definierte Transformationsprozesse in Bereichen wie Klimaschutz, Mobilität oder Digitalisierung vor Ort nicht möglich. Der gesamtgesellschaftliche Umbau erfordert eine dezentrale Struktur. Dabei spielt es keine Rolle, ob das jeweilige Stadtwerk in einem Verbund wie der Thüga organisiert ist oder einzeln agiert.

„Die Stadtwerke haben eine nationale Relevanz“

Michael Riechel: Dass das Bundeswirtschaftsministerium in der Sache oft auf die Länderebene verweist, birgt die Gefahr, dass ein gesamtgesellschaftlich derart wichtiges Thema wie die Sicherheit der Energieversorgung nicht bundesweit einheitlich geregelt wird. Man kann das Gefühl haben, dass die Systemrelevanz der Stadtwerke und die diesbezüglichen, mit der aktuellen Lage verbundenen Risiken nicht allen ausreichend bewusst sind. Wichtig ist: Es braucht in der jetzigen Situation einen Schutzschirm für die Stadtwerke. Konsolidierungen und Zusammenschlüsse zu größeren Einheiten sind hier keine grundsätzlichen Problemlöser – im Gegenteil: Es gilt, systemisch stabilisierend zu wirken. Der Bund ist gefragt, Risiken abzusichern, um einen Systemausfall zu verhindern. Gleichwohl wird auf die Stadtwerke die Frage zukommen, wie sie damit umgehen, wenn für einige Menschen die Energiekosten nicht mehr bezahlbar sind.

#stadtvonmorgen: Die Gesamtgemengelage lässt wenig Raum für hoffnungsfrohe Perspektiven. Der Bund kann Gesetze machen und Gasspeicherfüllstände definieren, Kommunen können die Wassertemperatur in Schwimmbädern absenken – doch wenn der Gashahn zugedreht wird, haben diese Maßnahmen doch höchstens einen dämpfenden Effekt. Schauen wir über den Handlungsradius von Stadtwerken hinaus: Wie handlungsfähig sind wir überhaupt? Und wie hoffnungsfroh können wir sein?

Michael Riechel: Zunächst haben die Stadtwerke in der Wertschöpfungskette die Rolle der Endversorger. Das beschriebene Problem liegt hingegen in erster Linie auf der Stufe der Beschaffung. An vielen Stellen ist heute schlichtweg keine seriöse Aussage möglich. Wie wir über die Heizperiode kommen, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Erstens: Wie lange dauert der Winter? Zweitens: Welche Temperaturen hat der Winter? Drittens: Wie entwickelt sich die Liefersituation, was russisches Gas betrifft, beziehungsweise in welchen Zeiträumen und Umfängen gelingt es, Alternativen zu erschließen? Es wird nicht ausreichen, dass die Speicher voll sind, denn ewig lässt sich nicht von Speichern leben. Tatsächlich hängen wir am Fliegenfänger Russlands. Und das hat nichts mit einer angeblich fehlenden Gasturbine zu tun, sondern einzig mit dem Tun und Lassen, mit dem Willen des russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Ulrich Maly: Im Augenblick befinden wir uns nicht in einer Phase der strategischen Ausrichtung, sondern in der Krisenintervention. Es gilt, über den nächsten Winter zu kommen. Selbst wenn die Speicher voll sind, bleibt Deutschland von Gas abhängig. In den vergangenen Jahren haben viele Stadtwerke Hunderte Millionen Euro in Erneuerbare Energien investiert und damit zu einer größeren Unabhängigkeit von fossilen Energieträgern beigetragen. Bislang war ein solches Engagement an vielen Stellen leider aber eher ein „Nice-to-have“. Hinzu kommt, dass auch beim Umstieg auf Erneuerbare Energien oft Gas als Brückentechnologie eine Rolle spielt. Umso mehr gilt es, diesen Umstieg zu beschleunigen. Die zentrale Aufgabe ist es, dass wir im Ukrainekonflikt nicht als Objekt der russischen Politik verharren, sondern Subjekt der eigenen europäischen Politik bleiben.

Mehr Geschwindigkeit beim Ausbau der Erneuerbaren Energien

#stadtvonmorgen: Aber welche Perspektive gibt es? Angenommen, wir kommen gut durch den Winter: Nach dem Winter ist vor dem Winter …

Ulrich Maly: Wichtig ist, dass wir Zeit gewinnen, um uns Alternativen zu erschließen. Dazu gehört dringend, dass wir beim Ausbau der Erneuerbaren Energien die Geschwindigkeit erhöhen. Wir brauchen – selbstverständlich bei Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien und des demokratischen Diskurses – dringend mehr Tempo, kürzere Fristen und pragmatischere Lösungen. Die Aufgaben, die uns die Aktivisten von „Fridays for Future“ seit Jahren schon zurufen, sind keine anderen und erst recht nicht kleiner geworden. Doch in vielen Bereichen besteht die Gefahr, sich im Kleinklein zu verlieren und zu langsam zu sein. Ich denke an die Windraddebatte in Bayern.

Michael Riechel: Ich möchte drei Zeitfenster aufzeigen. Ich schätze, dass die nächsten zwei Jahre dazu dienen, operativ die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren. Dies bedeutet etwa den vermehrten Import von Flüssiggas LNG, die stärkere Zusammenarbeit mit anderen Bezugsländern als Russland oder die Auseinandersetzung mit dem ideologisch besetzten Thema Fracking. Damit einher geht eine Diskussion über die zukünftige Rolle von Erdgas in Deutschland und Europa für Industrie, Verkehr und Wärme – und über diesbezügliche Alternativen wie Wasserstoff. Ich denke, dass wir uns damit in den nächsten fünf Jahren grundlegend befassen müssen. Eine andere Diskussion, die sich daraus ergibt, ist die um die Zukunft unserer Wärmeversorgung, um kommunale Wärmekonzepte und um die richtigen Rahmenbedingungen. Dafür müssen jetzt politische Leitplanken gesetzt werden, die Planungssicherheit für Investitionen geben. Aus Sicht der Stadtwerke und der Thüga wollen wir diese Prozesse unterstützen. Ich gehe davon aus, dass uns dies mindestens zehn Jahre beschäftigt.

#stadtvonmorgen: Eine kommunale Wärmeplanung auf Basis Erneuerbarer Energien, der Umbau zu einem dezentralen Wärmesystem, an vielen Stellen die Transformation der kompletten Infrastruktur – das kostet Milliarden.

Michael Riechel: Mehrere.

Dezentrale Versorgungskonzepte: Städte als Schlüsselakteure

#stadtvonmorgen: Wir haben vorhin ävon einem Bewusstseinswandel und neuen Koordinaten in den Städten gesprochen. Gehört dazu ein neues Verständnis von der Wärmeversorgung als Dienstleistung, also nicht als die reine „Lieferung eines Brennstoffs“?

Michael Riechel: Durchaus. Dabei geht es nicht nur um die klassische Fernwärme. Hier sind einige Großstädte mit relativ komplexen Fernwärmesystemen schon recht weit. Sondern es geht auch um kommunale Konzepte für die Nahwärme, um das Etablieren einer dezentralen Versorgungsstruktur und den Einbezug von regionaler Energieerzeugung beispielsweise mit Geothermie, Wasserstoff oder Biogas. Dabei gibt es viele offene Fragen. Eine davon ist die nach dem Anschlusszwang an ein solches System – schließlich müssen sich derart tiefgreifende Investitionen letztlich wirtschaftlich tragen.

Ulrich Maly: Es gibt durchaus ein neues Verständnis von Wärmelieferung, nämlich: dass hinter der Fernwärme nicht zwingend die Gasflamme stehen muss. Andere vorhandene Wärmequellen geraten stärker in den Blick. Dazu gehört die integrierte Betrachtung von Quartieren. Ich denke beispielsweise an die Abwärme eines Rechenzentrums oder eines Produktionsbetriebs, die oft „verpufft“, aber im Quartier gezielt für andere Anwendungen wie das Beheizen benachbarter Gebäude genutzt werden könnte. Solche Konzepte lassen sich schlussendlich nur dezentral, mit den Kommunen, den Stadtwerken und den Akteuren vor Ort, entwickeln und umsetzen.

Michael Riechel: In der Industrie war bislang festzustellen, dass Unternehmen vorwiegend in ihren Produktions- und Prozessketten Effizienzgewinne suchten, deutlich seltener jedoch im Bereich ihres Energieeinsatzes. Das hängt damit zusammen, dass Energie bisher fast schon selbstverständlich günstig zu haben war. Das ändert sich jetzt schlagartig. Auch dies gehört zum Bewusstseinswandel.

Politisches Bekenntnis zum Wasserstoff in der Wärmeversorgung

#stadtvonmorgen: Sie haben das Thema Wasserstoff angesprochen. Wie greifbar ist diese Technologie überhaupt?

Michael Riechel: Zurzeit fühlen sich die Stadtwerke diesbezüglich politisch gebremst. Grundsätzlich bietet sich der Einsatz von Wasserstoff in drei Sektoren besonders an: in der Industrie, im Verkehr – insbesondere im Schwerlast- und schienengebundenen Verkehr –, in der Wärmeversorgung. Das größte Potential birgt die Wärmeversorgung, was damit zusammenhängt, dass die Verteilnetze de facto bestehen. Leider habe ich bisweilen den Eindruck, dass dieser Aspekt nicht ausreichend ins Bewusstsein gerückt ist und sich der Fokus zu stark auf die industrielle Nutzung von Wasserstoff richtet. Wir haben das Gefühl, dass auch im Bundeswirtschaftsministerium diesbezüglich noch Überzeugungsarbeit zu leisten ist. Denn es braucht den politischen Willen, dass die Stadtwerke den Wärmemarkt mit Wasserstoff versorgen. Dazu gehört die Erkenntnis, dass wir in Deutschland Wasserstoff importieren müssten. Selbst wenn wir grünen Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien produzieren würden, könnten wir damit nicht unseren kompletten Bedarf decken, sondern wären stets auf Importe angewiesen. Umso mehr braucht es das politische Bekenntnis zum Wasserstoff in der Wärmeversorgung – denn nur auf einer verlässlichen Basis lässt sich in Anlagen und die Entwicklung der Infrastruktur investieren …

#stadtvonmorgen: … und damit ein Beitrag zur Dekarbonisierung leisten.

Michael Riechel: Ja, auch hinsichtlich der Dekarbonisierung erleben wir, wenn wir den Blick weiten, einen Bewusstseinswandel, nämlich die Transformation der Energieerzeugung von einer zentralen – Kohle, Gas, Kernkraft – zu einer dezentralen. Für den Einsatz Erneuerbarer Energien kommt den Stadtwerken die Rolle eines Hauptakteurs zu – nicht nur bei der Versorgung, sondern auch bei der Erzeugung, etwa durch Biogas, Geothermie, die Nutzung von Abwärme. Wir erleben eine Ausdifferenzierung der Erzeugung und einen größeren Mix verschiedener Möglichkeiten. Stadtwerke werden zukünftig als Erzeugungsdienstleister stärker tätig als bisher.

„Eine Einladung dazu, Synergien zu nutzen“

#stadtvonmorgen: Wie verändert sich denn perspektivisch die Stadtwerkelandschaft?

Michael Riechel: Nun, jahrzehntelang wurde ein Stadtwerkesterben an die Wand gemalt. Das ist nie eingetreten. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die aktuelle Situation den Druck auf einzelne Unternehmen, besonders auf kleine eigenständige Einheiten erhöht, sich mit anderen zusammenzutun. Schließlich ist es eine logische Konsequenz und grundsätzlich richtig, durch gemeinsame Infrastruktur, koordiniertes Handeln und gebündelte Beschaffung eigene Kosten zu optimieren. Wir befürworten diesen Ansatz aus Thüga-Sicht. Unsere Erfahrung ist, dass gerade in der aktuellen Zeit die Vorteile von Kooperationen noch offensichtlicher werden.

Ulrich Maly: Gerade der Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge ist ein sehr sensibles Feld. Stadtwerke sind in den meisten Fällen lokal tiefverwurzelt. Als kommunale Unternehmen sind sie Teil des demokratischen Systems und stehen unter demokratischer Kontrolle. Die Bevölkerung schaut sehr genau hin. Das hat auch mit ihrer oft vielseitigen Rolle zu tun, die von der Energieversorgung bis zum ÖPNV reicht, manchmal gehören sogar der Betrieb eines Bades oder einer Kultureinrichtung dazu. Andererseits stehen Stadtwerke unter wachsendem Ergebnisdruck. Darauf gilt es, Antworten zu finden – gerade in dem Geist eines umsichtigen Umgangs mit städtischer Infrastruktur. Die Zusammenarbeit von mehreren Beteiligten auf Augenhöhe und Kooperationen können dafür Lösungsansätze sein.

Michael Riechel: Das Potential der Thüga-Gruppe als Kooperationsgesellschaft mit Minderheitsbeteiligungen ist bei weitem nicht ausgeschöpft.

#stadtvonmorgen: Das ist eine Einladung?

Michael Riechel: Eine Aufforderung und eine Einladung.

Ulrich Maly: Eine Einladung dazu, Synergien zu nutzen.

Das Interview wurde am 9. August geführt und erscheint heute parallel auszugsweise in der Printausgabe der Fachzeitschrift „Der Neue Kämmerer“. Das Foto oben zeigt ein Heizkraftwerk mit Wärmespeicher in Nürnberg.

a.erb@stadtvonmorgen.de

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