Ole Schilling über die Erfolgsfaktoren bei der Entwicklung zur Smart City und neue Chancen für ländliche Räume durch digitale Transformation.

Das Fichtelgebirge als digitale Modellregion? Ein ländlicher Raum in Bayern als Vorzeigeprojekt für die Smart City – wie passt das zusammen? Tatsächlich ist Wunsiedel im Fichtelgebirge unter 13 Modellregionen der einzige Landkreis, der in der ersten Staffel des Bundesprojekts „Smart Cities made in Germany“ berücksichtigt ist. Gemeinsam mit seinen Städten und Gemeinden sowie der Deutschen Telekom als Projektpartnerin verfolgt der Landkreis eine zukunftsweisende Entwicklungsstrategie und realisiert entsprechende Digitalprojekt. Dabei setzt er auf Partizipation und bindet seine Bürger in die Ideenfindung ein; dies auch über digitale Kanäle wie eine Partizipationsplattform (Foto oben). Über die Modellhaftigkeit, die neuen Chancen für den ländlichen Raum durch Digitalisierung sowie die Rolle der Industrie bei der digitalen Transformation von Kommunen spricht Ole Schilling im OBM-Interview. Schilling ist bei der Deutschen Telekom Projektleiter für Wunsiedel.

Erfolgsfaktoren: Agilität, Partizipation, Fokus auf Infrastruktur

OBM: Herr Schilling, der Landkreis Wunsiedel im Fichtelgebirge ist in der ersten Staffel des Bundesförderprogramms „Smart Cities made in Germany“ einer von 13 Modellregionen. Die Telekom ist als Partnerin bei diesem Projekt dabei. Welche Besonderheiten hat das Projekt?

Ole Schilling: Das gesamte Vorhaben wird von einem kleinen, interdisziplinär arbeitenden Team seitens des Landkreises und der Telekom gesteuert. Dies ermöglicht eine hohe Agilität, die sich gerade in der Coronakrise ausgezahlt hat – etwa als es darum ging, geplante Veranstaltungen in digitale Formate zu übertragen. Eine zweite Besonderheit ist, dass der Landkreis seine Bürger und die relevanten Stakeholder frühzeitig integriert. Auch als die Coronakrise und die Kontaktbeschränkungen entsprechende Informationsveranstaltungen verhinderten, wurde dieser partizipative Ansatz konsequent weiterverfolgt – sowohl über digitale Kanäle wie den einer Partizipationsplattform, als auch mit eher konservativen Methoden wie einem postalischen Anschreiben, um alle Zielgruppen zu erreichen. Drittens betrachten wir die Digitalisierung nicht getrennt vom Thema Infrastruktur.

OBM: Wieso?

Ole Schilling: Wir vergegenwärtigen uns von Beginn an, welche Projektideen auf Basis der bestehenden Infrastruktur überhaupt realisierbar sind beziehungsweise wofür es konkrete Bedarfe an Infrastrukturausbau gibt. Gerade die letzten beiden Aspekte – der partizipative Ansatz und der Blick auf die Infrastruktur – sind Kernpunkte. Laut einer Cisco-Studie scheitern rund 70 Prozent der Digitalisierungsprojekte in Deutschland, weil sie keine Akzeptanz finden oder weil die Infrastruktur dafür nicht vorhanden ist. Diese Risiken sind hier von vorneherein minimiert.

Abgleich von Infrastruktur und digitalen Services

OBM: Welche Relevanz hat das Thema Infrastruktur denn für die Digitalisierung von Kommunen – gerade im ländlichen Raum?

Ole Schilling: Grundsätzlich ist die Infrastruktur natürlich eine Voraussetzung dafür, überhaupt digitale Services anbieten zu können. Es liegt auf der Hand, dass der Aufbau dieser Infrastruktur im ländlichen Raum eine größere Herausforderung ist als im urbanen. Hier ist die Bevölkerungs- und damit die Nutzungsdichte nicht so hoch, und folglich sind die Kosten pro Kopf höher. Wer Digitalisierungsprojekte mit einem Zeithorizont von einigen Jahren plant, darf daher den Blick auf die infrastrukturellen Voraussetzungen nicht verlieren.

OBM: Wann gibt es denn einen Internetanschluss für jede Milchkanne, also für jeden Winkel eines Landkreises?

Ole Schilling: Wichtig ist vor allem, dass wir eine hohe Abdeckung und eine hohe Zufriedenheit erreichen. Die grundsätzliche Frage ist, ob es überhaupt Sinn macht, dass jede Milchkanne mit dem Internet verbunden ist. Es geht auch hier um den Abgleich von Infrastruktur und digitalen Services: Im Blick sollte dabei immer der Mehrwert für Bürger, Städte oder Unternehmen sein. Daran sollte sich auch der Infrastrukturausbau orientieren. Die Entwicklung digitaler Services und der Ausbau der Infrastruktur sollten Hand in Hand angegangen werden – so wie wir es gerade in Wunsiedel tun.

Einzelne Kommunen bei der Digitalisierung nicht isoliert betrachten

"Kommunen, die vor ähnlichen Herausforderungen wie der Landkreis Wunsiedel stehen, laden wir dazu ein", sagt Ole Schilling über die Möglichkeit, dass andere Kommunen an den Erfahrungen des Landkreises Wunsiedel in Sachen Digitalisierung teilhaben. (Quelle: Telekom)

„Kommunen, die vor ähnlichen Herausforderungen wie der Landkreis Wunsiedel stehen, laden wir dazu ein“, sagt Ole Schilling über die Möglichkeit, dass andere Kommunen an den Erfahrungen des Landkreises Wunsiedel in Sachen Digitalisierung teilhaben. (Quelle: Telekom)

OBM: Wenn Sie auf das Modellprojekt Wunsiedel blicken: Welchen auch auf andere Regionen übertragbaren Erkenntnisgewinn erhoffen Sie sich davon?

Ole Schilling: Ich erwarte viele Lerneffekte. Eine Erkenntnis zeigt sich schon jetzt: nämlich, dass man einzelne Kommunen im Kontext der Digitalisierung nicht isoliert betrachten darf. Wunsiedel beispielsweise ist eine Region, deren Wirtschaftsstruktur, Zukunftsherausforderungen und aktuelle Bedürfnisse mit denen von rund 45 anderen Landkreisen der Republik vergleichbar sind. Übrigens erhofft sich der Bund mit seinem Förderprogramm skalierbare Lösungen nicht nur für eine Region, sondern gerade auch eine Übertragbarkeit der Arbeitsergebnisse auf andere.

OBM: Oft sind Kommunen in der Digitalisierung aber auf sich alleine gestellt. Wie wollen Sie dem in Wunsiedel gegensteuern?

Ole Schilling: Auf Basis des partizipativen Ansatzes arbeiten wir in Wunsiedel auf zwölf Handlungsfeldern, die das kommunale Geschehen abbilden, an neuen digitalen Lösungen. Diese wollen wir im kommenden Herbst, also bereits in einer sehr frühen Projektphase, mit den Stakeholdern und Bürgern reflektieren. Der partizipative Ansatz greift jedoch noch weiter: Wir möchten diese Abstimmung öffnen und die genannten 45 Landkreise dazu einladen. Für Wunsiedel ergibt sich daraus die Chance des Erfahrungsaustauschs und bestenfalls auf ergänzende Anregungen. Und den anderen Kommunen zeigen wir aus erster Hand die Lösungsansätze, die wir modellhaft vor Ort verfolgen. Kommunen, die vor ähnlichen Herausforderungen wie der Landkreis Wunsiedel stehen, laden wir also herzlich dazu ein, sich auf diese Weise einzubringen.

Interkommunale Kooperation und Agilität sind zentral für die Smart City

OBM: Sie sagen, die interkommunale Kooperation ist deswegen so wichtig für die Digitalisierung, damit diese schneller und effizienter vonstattengehen kann?

Ole Schilling: Definitiv. Ich denke dabei ans Thema „Agile Produktentwicklung“. Auf diese Weise arbeitet die Telekom unter anderem an einer Smart-City-App, einem Interface zwischen Kommunen und Bürgern. In einer Produktcommunity sind Städte unmittelbar in die Entwicklungsarbeit einbezogen. Sie können ihre Anforderungen an die App bereits in die Entwicklung einbringen. Während wir bei diesem Beispiel die Produktidee im Grunde bereits haben und an ihrer Umsetzung arbeiten, setzen wir beim Beispiel Wunsiedel sogar noch davor an, nämlich bei der Ideenfindung für Anwendungen. Grundsätzlich kommt es progressiven Vorhaben zugute, die Last von einer Schulter auf mehrere zu verteilen und zu gemeinsamen Standards zu kommen. Dies korrespondiert mit der industriellen Produktentwicklung, wo in gemeinsamen Verbünden die Abstimmungsaufwände zwar höher sind, aber gleichzeitig das Investmentpotential und die Chancen auf einen Durchsatz am Markt steigen. Für Gebietskörperschaften mit ihren natürlichen Grenzen mag eine solche Art der Produktentwicklung vielleicht ungewohnt erscheinen – auch da sich Städte und Regionen oft im Wettbewerb zueinander begreifen. Doch die Anforderungen der Digitalisierung bergen die Chance, diese Grenzen zu überwinden. Gerade dies ist ja ein Ansinnen des Förderprogramms.

Der ländliche Raum als Testlabor für die Smart City?

OBM: Wunsiedel ist in der ersten Förderphase der einzige Landkreis. Wo sehen Sie die Unterschiede bei der Digitalisierung zwischen urbanen und ländlichen Räumen?

Ole Schilling: Ein Kernunterschied liegt darin, dass Städte eher das Problem des Wachstums, der Wohnraumknappheit und der Verkehrsverdichtung haben. In den ländlichen Räumen findet sich oft die gegenteilige Situation, dass Menschen abwandern, um Arbeitsplätze zu finden. Insofern haben Landkreise wie Wunsiedel ein höheres wirtschaftliches Risiko, was Kaufkraft, Verfügbarkeit von Fachkräften oder Arbeitsplätzen angeht. Die interessante Frage ist, wie die Digitalisierung den Landkreisen dabei helfen kann, diese Herausforderung abzumildern. Dafür erleben wir mit der Coronakrise eine spannende Zeit. Denn es wächst die Erkenntnis, dass der höherwertige Büroarbeitsplatz nicht nur in der Stadt, sondern auch wo anders – zum Beispiel im Home-Office – sein kann. Die zentrale Aufgabe von ländlichen Räumen ist es also, dieses Bewusstsein zu nutzen und digitale Lösungen zu schaffen, die beides in Einklang bringen: einerseits die Vorzüge des ländlichen Raums mit geringerer Gewerbesteuer, niedrigeren Wohnraumpreisen oder Naturnähe und andererseits den digitalen Anschluss an hochwertige Jobs, Bildungsangebote oder medizinische Services.

OBM: … was, sollte dies gelingen, auch in Städten den Verdichtungsdruck reduzieren könnte?

Ole Schilling: Durchaus. Was die Digitalisierung betrifft, sehe ich das Stadt-Land-Verhältnis aber noch aus einem anderen Blickwinkel. Ich habe oft das Gefühl, dass in Städten bei der Digitalisierung die Komplexität des Verwaltungssystems ein Hemmnis ist. Beispiel Mobilität: Bei einzelnen Projekten sind hier eine Menge Akteure einzubinden, von den betroffenen Verwaltungsstellen, den örtlichen Verkehrsunternehmen bis hin zu den Entscheidern in der Politik. Diese Komplexität und der hohe Abstimmungsbedarf können einzelne Projekte verzögern. Im ländlichen Raum sind die Strukturen dagegen oft weniger komplex, und der Abstimmungsbedarf ist weitaus geringer. Unter diesen Vorzeichen lässt sich schneller arbeiten, mehr ausprobieren und mehr über Inhalte reden, weniger über Zuständigkeiten.

OBM: Die ländlichen Räume sind also die neuen Testlabore für die Smart City?

Ole Schilling: Das ist eine gute Frage. Grundsätzlich brauchen wir in Deutschland mehr Testräume. Wir stellen fest, dass sich immer mehr Kommunen einer Digitalisierungsstrategie verschreiben, teils auch vom Bund gefördert. Hier sehen wir zwar eine stetige Progression, doch zugleich ist die Entwicklung langsam. Es gibt zu wenig Raum für disruptive Innovation und dafür, Neues auszuprobieren. Wir stehen bei der Digitalisierung in Kommunen vor der Frage, wie man disruptiver arbeiten kann. Je weniger komplex eine Situation ist, umso leichter fällt dies. Deshalb: Ja, ich glaube, dass dies die Orte sind, wo man Dinge schnell und einfach ausprobieren kann.

Grundlagen für positive digitale Entwicklung in Deutschland sind gelegt

OBM: Es braucht aber nicht nur Räume, sondern auch die Treiber, die bereit sind, nach vorne zu gehen.

Ole Schilling: Das ist richtig. Wenn wir über Digitalisierung reden, dann reden wir über eine einschneidende Transformation. Das betrifft nicht nur Städte, sondern auch Unternehmen. Wer in Richtung Digitalisierung geht, muss sich darüber im Klaren sein, dass dies Effekte auf seine Organisation hat. Dafür bedarf es entsprechender Ressourcen, einer Risikobereitschaft und der Bereitschaft dafür, existierende Strukturen zu verändern, Knowhow aufzubauen und bereichsübergreifend zu arbeiten.

OBM: Wie sehen Sie Deutschland denn aufgestellt, was die Digitalisierung von Kommunen angeht?

Ole Schilling: Die Infrastruktur als Basis entwickelt sich konstant über alle Städtetypen hinweg positiv. Nach wie vor brauchen wir die enge Kooperation zwischen Städten und Bürgern, um die digitale Entwicklung weiter zu beschleunigen. Digitale Services helfen uns hierbei, da sie den Mehrwert der Digitalisierung für Bürger und die Städte erlebbar machen. Losgelöst davon fördert der Bund systematisch, dass sich Städte mit den Möglichkeiten der Digitalisierung auseinandersetzen und dafür eigene Strategien entwickeln. Im Ergebnis sind wir noch keine „Vorreiter“, aber die Grundlagen für eine positive Entwicklung sind gelegt. Zudem bergen die Erfahrungen aus der Coronakrise für jede Stadt eine Chance, zu lernen und im Kontext der Digitalisierung einen Schritt nach vorne zu machen.

Rolle der Industrie: Städte und Regionen zusammenbringen

OBM: Welche Rolle kann die Industrie auf diesem Weg einnehmen?

Ole Schilling: Wenn wir auf die digitalen Services schauen, sehe ich drei Aspekte. Die digitale Transformation einer Behörde ist auch eine organisatorische und kulturelle, die Zeit braucht. Hier hat die Industrie schon sehr viele Erfahrungen gesammelt, die es zu teilen gilt. Der zweite Aspekt ist, dass die Industrie einen aktuellen Überblick über internationale Best Practices und Lösungen hat, den keine einzelne Kommune haben kann. Auch hier geht es um einen Erfahrungsaustausch, um Mehrwerte und um das Aufzeigen von Optionen. Aus meiner Sicht ist aber der wichtigste Aspekt, dass die Industrie Städte und Regionen mit gleichen Herausforderungen zusammenbringt. Es geht darum, gemeinsam Lösungen zu entwickeln, die sowohl aktuellen Standards entsprechen, als auch wirtschaftlich für jede einzelne Kommune erschwinglich sind. Diese „Developer Communities“ sind für uns Kerngedanke, um eine hohe Qualität und wirklichen Nutzen durch die Digitalisierung für die Städte zu erbringen.

Hier sprechen der Wunsiedeler Landrat Peter Berek und die Oberbürgermeister Oliver Weigel und Ulrich Pötzsch aus Marktredwitz und Selb ausführlich über das Modellprojekt „Smartes Fichtelgebirge“.

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