Als erster Gemeinderat in Baden-Württemberg hat das Lokalparlament in Tübingen gestern per Videokonferenz getagt und Beschlüsse gefasst. Die Sitzung wurde gleichzeitig per Livestream übertragen. Das Gesetz, das diese Form der Gemeinderatssitzung angesichts der Coronapandemie möglich macht, war erst einen Tag zuvor in Kraft getreten. „Mit der Videokonferenz konnten wir wichtige Beschlüsse auf den Weg bringen und zugleich in Zeiten der Coronakrise dem Infektionsschutz Rechnung tragen“, sagt Oberbürgermeister Boris Palmer.
Städte uneinig bezüglich des Livestreams ihrer Ratssitzungen
Dabei spaltete die Frage nach einem solchen Sitzungsformat zumindest bis zur Coronakrise lange Jahre die kommunale Familie. Vor allem der Livestream sorgte für unterschiedliche Auffassungen unter den Städten. Dies ergab eine Umfrage der OBM-Zeitung unter 37 zufällig ausgewählten Städten im März 2018. Etwa die Hälfte davon (16) übertrugen ihre Sitzungen oder planten, dies zu tun. Die anderen lehnten einen solchen Livestream ab.
Der Kern der Debatte, die auch in den Räten selbst teils kontrovers geführt wird, ist vielerorts ähnlich. Auf der einen Seite stehen die Forderung nach Transparenz und zeitgemäßer Partizipation über digitale Kanäle. Auf der anderen Seite stehen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung der Sitzungsteilnehmer sowie der Datenschutz. Zudem deutet die Polarisierung in der Frage auch auf juristische Unsicherheiten durch landesspezifisch unterschiedlich gestaltete Gemeindeordnungen hin, die dem medialen Wandel nicht angepasst sind.
Entscheidungen über Steuermillionen sollten öffentlich sein
„Frei zugänglich, dauerhaft archiviert, idealerweise mit der Tagesordnung verknüpft“ – so stellt sich Roman Ebener von der Transparenzplattform abgeordnetenwatch.de die Aufbereitung einer Parlamentsdebatte im Web vor. „Dies ermöglicht mit relativ geringem Aufwand ein hohes Maß an Einblick in den parlamentarischen Diskurs.“ Dabei nutzten viele Städte das Potential zum Transparenzgewinn bei weitem nicht aus. Sogar bestehende Livestreams seien auf manchen städtischen Webseiten nur durch eine gezielte Suche auffindbar.
„Es geht um öffentliche Prozesse, um öffentlich getätigte Äußerungen in öffentlichen Sitzungen.“ Ebener sieht keinen Grund, diese der Internetöffentlichkeit vorzuenthalten. „Das Engagement eines Lokalpolitikers sollte nicht an der Übertragung einer Sitzung scheitern.“ Wer über Steuermillionen mitentscheide, müsse sich der Öffentlichkeit stellen.
Sensibilität für Datenschutz ist ausschlaggebend
Fragezeichen an die Internetübertragung von Parlamentssitzungen setzt hingegen der Datenschutz. Im Wesentlichen geht es um die informationelle Selbstbestimmung aller von der Übertragung betroffenen Akteure. Denn in einer Ratssitzung treten ja nicht nur führende Lokalpolitiker, die sowieso in der Öffentlichkeit stehen, auf. Es sprechen bisweilen auch Amtsleiter, Verwaltungsmitarbeiter oder sogar Zuschauer im Ratssaal. Werden nun Ton und Bild übertragen und sind die Personen identifizierbar, tangiert dies deren Recht auf informationelle Selbstbestimmung.
Im Grunde muss also jeder, der von der Übertragung erfasst ist, seine Einwilligung dazu geben. Dies vor allem deshalb, weil manche Gemeindeordnung im Zusammenhang mit Ratssitzungen von einer Saalöffentlichkeit spricht. Die mediale Möglichkeit eines Livestreams via Internet ist darin also nicht zwangsläufig vorgesehen.
Wie ein Livestream unter Wahrung des Datenschutzes möglich ist
Unmöglich ist ein Livestream aber trotzdem nicht, auch wenn er in der Gemeindeordnung nicht explizit erwähnt wird. Allerdings muss er den Kriterien des Datenschutzes genügen. Zum Beispiel:
- Die betroffenen politischen Akteure geben ihre Einwilligung zur Übertragung für eine Amtsperiode. Diese kann jederzeit widerrufen werden.
- Gleichzeitig lassen sich weniger „öffentliche“ Personengruppen wie Verwaltungsmitarbeiter oder Zuschauer schützen, indem man deren Wortbeiträge schlichtweg nicht überträgt.
- Ebenso ist es denkbar, anstelle des Livestreams einen Mitschnitt zeitversetzt zu zeigen, um Gelegenheit zu haben, datenschutzrechtlich kritische Situationen zu überblenden.
- Auch eine standardmäßige Abfrage zu Sitzungsbeginn bezüglich möglicher Bedenken der Sitzungsteilnehmer kann das Problem lösen.
- Rednern soll es möglich sein, vor ihrem Beitrag darum zu bitten, die Übertragung für die Zeit ihrer Rede anzuhalten.
Erfolgreicher Pilotlauf in Tübingen – Palmer: Livestream „längst überfällig“
Oberbürgermeister Palmer hingegen hält den Livestream in Zeiten der Digitalisierung für geboten. Den Pilotlauf in Tübingen verbucht er als Erfolg. „So bringt die Corona-Pandemie zumindest einen Schub für die längst überfällige Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung.“ Die Entwicklung zur Smart City dürfe nicht an der Tür zum Gemeinderat stehenbleiben. Die digitale Sitzung werde in der Stadt von morgen wohl an Selbstverständlichkeit gewinnen.
An der gestrigen digitalen Sitzung beteiligten sich rund drei Viertel der 40 Gemeinderatsmitglieder von zu Hause oder vom Arbeitsplatz aus. Neun Stadträte sowie die Vertreter der Verwaltung waren persönlich im Rathaus anwesend. Auf den Laptops und Tablets der Sitzungsteilnehmer waren die jeweiligen Sprecher zu hören und bei eingeschalteter Webcam auch zu sehen. Bei den Abstimmungen gab es Wortmeldungen statt Handzeichen.
Damit die Bürger von zu Hause aus die Sitzung verfolgen können, hatte die Stadtverwaltung ein Kontingent für 500 zeitgleiche Abrufe eingerichtet, das in der ersten Stunde zwischen 17 und 18 Uhr sogar überschritten wurde. „Mit dieser erfreulich großen Nachfrage hatten wir nicht gerechnet. Eine Gemeinderatssitzung im Rathaus mit 500 Zuschauern gab es noch nie“, sagt Palmer. Von 18.30 bis 19.30 Uhr haben im Schnitt 350 Personen die Sitzung verfolgt, gegen 21 Uhr gab es noch rund 300 Zuschauer. Etwa 200 Personen blieben bis zum Ende der Sitzung gegen 22.30 Uhr online. Ob Videokonferenz und Livestream fortgesetzt werden, entscheidet der Gemeinderat.