Tübingens OBM Boris Palmer fordert ein Ende der Coronarestriktionen für Handel und Gastronomie. Sonst drohe den Innenstädten ein Kollaps.

Zutritt nur mit 2G, mit 2G-Plus, mit 3G oder komplett geschlossen? Was galt denn jetzt eigentlich in Baden-Württemberg bisher für welche Branche, und welche Coronaregeln sind neu? Es war eine Szene in der digitalen Pressekonferenz, die charakteristisch für die bundesweite Verwirrung ist. Erst setzte die Sprecherin der Stadt Tübingen an, um die aktuellen Coronaregeln vor Ort zu erklären. Dann ergänzte Oberbürgermeister Boris Palmer – um seinerseits von einem anwesenden Händler korrigiert zu werden. Dem wiederum fiel ein Gastronom ins Wort – da in der Gastronomie andere Regeln gelten als im Einzelhandel.

Palmer: „Sorgen um die Innenstadt werden größer“

Wenn schon die Protagonisten tüfteln müssen, um alle Regeln zusammenzukriegen – wie sollen denn die Bürger im sich ständig verändernden Coronaverordnungsdschungel zurechtkommen? Gestern lud Oberbürgermeister Palmer zur Pressekonferenz ein. Dabei kam nicht nur die Forderung nach einheitlicheren, klareren und längerfristiger gültigen Regeln auf, sondern angesichts der aktuellen Pandemiesituation auch nach Lockerungen. Palmers Credo: „Freier Zugang zu Handel und Gastronomie.“

Einzelhandel und Gastronomie dürften nicht die „Prellböcke“ sein, um der Impfkampagne durch Zugangsbeschränkungen zu mehr Durchschlagskraft zu verhelfen. Im Gegenteil würden seine „Sorgen um die Innenstadt, um Handel und um Gastronomie mit jedem Tag größer“. Deren Lage sei „dramatisch“, so Palmer.

„Überlastungszeichen des Handels und der Gastronomie“

Beinahe zeitgleich gab die baden-württembergische Landesregierung gestern Lockerungen im Land bekannt. Dort fällt die 3G-Regel (Zugang für Geimpfte, Genesene und Getestete) für den Einzelhandel. Dieser Schritt sei „überfällig“, so Palmer. Aber: Die 2G-Regel (geimpft, genesen) für die Gastronomie bleibt. Hier müsse es ebenfalls Lockerungen geben, fordert der Oberbürgermeister. Einzelhandel und Gastronomie in den Innenstädten hingen miteinander zusammen.

Mit der Virusvariante Omikron erreiche das Infektionsgeschehen in der Coronakrise zwar eine höhere Dynamik. Gleichwohl sei die Variante weniger gefährlich und belaste die Kapazitäten der Krankenhäuser nur in vergleichsweise geringem Ausmaß. „Die Intensivstationen sind derzeit nicht überlastet. Dagegen werden die Überlastungszeichen des Handels und der Gastronomie immer schlimmer“, sagt Palmer. „Gebt die Innenstadt frei, weil die Betriebe nicht mehr können.“ Es sei vertretbar, mit Masken-, Abstandsregeln und Lüftungskonzepten zu öffnen.

Palmer: „Es geht um die Stadt als Ganzes“

Bei der städtischen Pressekonferenz zeichnete Palmer ein Bild der Situation in seiner Innenstadt. Er ließ Vertreter von Einzelhandel und Gastronomie zu Wort kommen. Die bestätigten seine Sicht mit konkreten Beispielen. Dabei steht Tübingen aber auch pars pro toto für die allgemeine, prekäre Situation in vielen deutschen Zentren.

„Weder in der Bevölkerung noch in der Politik ist die Dramatik wirklich angekommen“, sagt Palmer nicht zuletzt mit Blick auf die Bundespolitik. Es sei ein Fehlschluss, davon auszugehen, dass Betriebe, die das erste Coronajahr überstanden hätten, auch das zweite Jahr der Beschränkungen relativ glimpflich überleben könnten. Vielerorts spitze sich die Lage zu. Palmer: „Es geht um mehr als einzelne Betriebe, es geht um die Stadt als Ganzes.“

Mitarbeiter im Handel „beschimpft“ wegen Coronaregeln

Die Innenstadt sei ohnehin einem Wandel unterworfen. Die Coronakrise beschleunige ihre Transformation aber in atemberaubender Art und Weise, warnt der Oberbürgermeister. Die Hauptgeschäftsführerin des baden-württembergischen Handelsverbands, Sabine Hagmann, sprach bei der digitalen Presserunde angesichts der strengen Regeln für den stationären Handel von einem „Konjunkturprogramm für Ecommerceplattformen“.

Einzelhandel und Gastronomie litten nicht nur unter ausbleibenden Kunden und erzwungenen Ladenschließungen. Hinzu kämen weitere Effekte. Bei der Pressekonferenz sprach der Buchhändler Christian Riethmüller davon, dass seine Mitarbeiter neuerdings „angemotzt und beschimpft“ würden. Einerseits von Ungeimpften, die kein Verständnis für die Coronaregeln in den Geschäften aufbringen, und andererseits von Geimpften, die noch stärkere Restriktionen fordern. Die Mitarbeiter des Handels und der Gastronomie stünden an vorderster Front der alltäglichen Coronadebatte.

Handel und Gastronomie rechnen mit massiven Verlusten

Der baden-württembergische Handelsverband rechnet nach aktuellen Schätzungen über alle Branchen hinweg für das vergangene Jahr mit Ertragsverlusten in der Größenordnung von rund 35 Prozent, in der Modebranche von rund 44 Prozent. Als besonders hart von der Krise betroffen zeigen sich derweil die Unternehmen, deren Umsatzverlust knapp weniger als 30 Prozent ausmacht – denn die Coronahilfen des Bundes greifen erst ab der Schwelle von 30 Prozent. Diese Unternehmen leiden nach eigener Erzählung zwar unter massiven Einbrüchen und müssen gleichzeitig coronabedingte Kostensteigerungen verkraften, fallen gleichzeitig aber durchs Raster der Hilfe.

Dabei berichten sie von zusätzlichen, neuen Lasten. Etwa habe es aufgrund der Lockdowns eine erhöhte personelle Fluktuation gegeben. Dies habe höhere Recruitingkosten zur Folge. Zudem müsse man in den Läden Coronaregeln kontrollieren. Dies verursache ebenfalls zusätzliche Kosten und erfordere Personal. Daher falle der Ertragsverlust oft sogar höher aus als der Umsatzverlust. Hinzu kämen aktuell steigende Energie- und Mobilitätskosten.

„Wirksame Förderprogramme“ für die Innenstädte

Die Restriktionen für den Zugang zu Handel und Gastronomie dürften nicht als Ersatz für eine Impfpflicht eingesetzt werden, meint Palmer. Zwar sei eine Impfpflicht richtig und ein „Schlüssel für den Ausgang aus der Pandemie“. Um weitere Lockdowns zu verhindern, müsse diese bis zum nächsten Winter beschlossen werden. Das Leben in den Innenstädten dürfe aber nicht als Druckmittel dafür eingesetzt werden, die Bevölkerung zum Impfen zu motivieren.

Im Gegenteil bedürfe es einer gemeinsamen Anstrengung von Bund, Ländern und Kommunen und eines „wirksamen Förderprogramms“, um die Funktion der Innenstädte als Zentren und Treffpunkte zu erhalten. Dazu gehöre es, den Einzelhandel und die Gastronomie zu unterstützen. Als Vorschlag brachte Riethmüller das Aussetzen der Mehrwertsteuer für den stationären Handel und die Gastronomie ein. Als Hintergrundbild seines Konterfeits hatte Riethmüller für die Videokonferenz eine Taube gewählt. „Symbolisch“, wie er sagt. „Damit nicht die Tauben die einzigen in unseren Innenstädten sind, die überleben.“

a.erb@stadtvonmorgen.de

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