Unter den lokalpolitischen Turbulenzen, die die Coronakrise hervorbrachte, war es ein trauriger Höhepunkt, als Bernd Wiegand, der Oberbürgermeister von Halle an der Saale, 2021 suspendiert wurde. Dem Vorwurf, er habe die Impfreihenfolge nicht eingehalten und unter anderem sich selbst somit Zeitvorteile verschafft, folgten weitere von ihm bestrittene Anschuldigungen. Im Juni 2021 enthob das Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt den Oberbürgermeister dann vorläufig seines Dienstes. Ein Disziplinarverfahren läuft. Aus der Ferne betrachtet bleibt das Bild einer zerstrittenen Lokalpolitik und einer Verwaltung im Stand-by-Modus ohne Führungskraft haften.
Doch das Gegenteil ist offenbar der Fall. Anstelle von Lethargie und Lähmung sind Elan und Aufbruchsstimmung in Halle zu spüren. Während die Vakanz an der Stadtspitze schon mehr als anderthalb Jahre anhält, schwingt sich die Stadt nun überraschend zu einer neuen Blüte auf. Denn Halle an der Saale ist ein zukunftsträchtiger Coup gelungen. Aus dem Standortwettbewerb um das neue „Zukunftszentrum Deutsche Einheit und Europäische Transformation“, das der Bund einrichtet, geht die rund 240.000 Einwohner große Stadt als Gewinnerin hervor.
Engagement der Stadtgesellschaft fürs Zukunftszentrum
Im Juli 2022 startete das Bewerbungsverfahren. Es richtete sich an ostdeutsche Kommunen. Neben Halle kamen die Städte Eisennach, Frankfurt (Oder), Jena sowie die Doppelbewerbung von Leipzig und Plauen in die finale Auswahl. Das Zukunftszentrum steht im Zeichen der Gesellschafts-, Europa- und Demokratieforschung. Vor dem Hintergrund der deutschen Wiedervereinigung soll es sich Transformationsprozessen in Deutschland und Europa widmen. Dafür will es eine exzellente, international relevante Anlaufstelle werden. Es soll als Thinktank zur gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und ökologischen Progression beitragen.
Für Halles Stadtentwicklung gibt die Ansiedlung des Zukunftszentrums einen wichtigen Impuls. Wie groß das Engagement der Stadtgesellschaft für den Wettbewerbserfolg war, zeigt sich an der Bürgerbeteiligung. „Ein Netzwerk aus über 70 kulturellen, zivilgesellschaftlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Einrichtungen in der Stadt, der Region und in Sachsen-Anhalt hat die Bewerbung mitgetragen und gefördert“, resümiert Bürgermeister Egbert Geier auf Nachfrage von #stadtvonmorgen. Geier vertritt den Oberbürgermeister während dessen Suspendierung und verantwortet entsprechend die städtische Bewerbung. Er spricht von einem „monatelangen, unermüdlichen Einsatz“ der regionalen Akteure für die Bewerbung. Nach wie vor bleibe das Netzwerk zusammen und stehe dem Bund als Vor-Ort-Partner zur Verfügung.
Das Zukunftszentrum als „Eingangstor der Stadt“

Egbert Geier (Quelle: Stadt Halle (Saale)/Thomas Ziegler)
Konkret erwartet Geier für seine Stadt nicht nur städtebauliche Effekte von der Ansiedlung, sondern auch neue kulturelle, gesellschaftliche, touristische und wirtschaftliche Zukunftsperspektiven. Städtebaulich entstehe mit dem Bau des Zukunftszentrums ein „Highlight an exponierter Stelle“, nämlich in Bahnhofnähe, also am „Eingangstor der Stadt“, wie Geier sagt. Im Augenblick trifft der Bund die Vorbereitungen für einen Architekturwettbewerb (beim Foto oben handelt es sich lediglich um eine modellhafte Vision des Gebäudes). Parallel formiert sich eine Trägergesellschaft für das entstehende Zukunftszentrum.
Den geplanten Neubau sieht Geier im Zusammengang mit dem benachbarten alten Reichsbahnausbesserungswerk (RAW). Dabei handelt es sich um ein ehemaliges Bahnareal. Auf der 20 Hektar großer Konversionsfläche spielt sich ein für die Stadtentwicklung strategisch maßgeblicher Transformationsprozess ab, nämlich der Umbau zu einem neuen Stadtteil. „Im Zuge des Strukturwandels des Braunkohleausstiegs möchte die Stadt Halle als eines der Leuchtturmprojekte das ehemalige RAW-Gelände zum modernen Quartier für Arbeiten, Wohnen, Leben, Tagen und Verweilen entwickeln“, erklärt Geier. Das nahegelegene Zukunftszentrum verschaffe diesem wichtigen Vorhaben eine zusätzliche Dynamik.
Halle setzt auf die Strahlkraft des Zukunftszentrums
Darüber hinaus geht der Bürgermeister davon aus, dass die neue Institution die Anziehungskraft der Stadt sowohl für Touristen als auch für Fachkräfte und Unternehmen stärkt. „Schon heute hebt die Entscheidung des Bundes die Stadt Halle und die Region auf die Landkarte von Entscheidern aus Wirtschaft, Wissenschaft und der Tourismusbranche“, sagt Geier. Das erhöhe die nationale und internationale Sichtbarkeit der Stadt und komme ihrer ohnehin positiven wirtschaftlichen Entwicklung zugute. Zudem erweitere das Zukunftszentrum das wissenschaftliche und kulturelle Angebot in Halle erheblich. Geier: „Die Kunst- und Kulturszene in allen Stadtteilen und im Umland wird von der Strahlkraft des Zentrums profitieren.“
In einer vom Strukturwandel, dem Kohleausstieg und den damit verbundenen Umbrüchen besonders betroffenen Region passe das Zukunftszentrum thematisch zum stadtgesellschaftlichen Diskurs. Dies gelte auch für die Frage des „soziökonomisch und ökologisch nachhaltigen Umbaus hin zu einer klimaresilienten und zukunftsfähigen Stadt“, meint Geier. In der breiten lokalen Debatte über tiefgreifende Transformationsaufgaben – vom Strukturwandel über die Digitalisierung hin bis zur Mobilitätswende – und über die großen Herausforderungen der Demokratie erhofft er sich aus dem Zukunftszentrum Inspiration für die Stadtgesellschaft. So weckt der Ansiedlungserfolg in Halle die Vorfreude auf das Morgen. Während die Stadt aufreibende lokalpolitische Turbulenzen ähnlich wie die gesamte Coronakrise wohl am liebsten im Gestern zurücklassen würde.