Als Ermedin Demirovic vom SC Freiburg im DFB-Pokalfinale am vergangenen Samstag im Elfmeterschießen seinen Schuss nicht ins Tor, sondern an die Latte donnerte, war das Spiel entschieden. Fußballbundesligist RasenBallsport Leipzig gewinnt zum ersten Mal einen nationalen Titel. Dabei wurde der Verein erst 2009 aus dem Umfeld des Getränkeherstellers Red Bull gegründet. Seit dem legt RB Leipzig, in der Fußballszene ob des kommerziellen Hintergrunds umstritten, einen rasanten Aufstieg hin, der den Klub bis in die Champions League führt. Doch wie wirkt der Spitzenfußball in einer Stadt? Über die Rolle von RB Leipzig für die Stadt und für Ostdeutschland spricht Oberbürgermeister Burkhard Jung. Das Interview ist 2018 in der OBM-Zeitung erschienen und nun vor dem Hintergrund des DFB-Pokal-Gewinns der Leipziger online aufbereitet.
RB Leipzig als Identitätsfaktor in der Stadt
#stadtvonmorgen: Herr Jung, in kürzester Zeit ist nach dem Engagement von Red Bull und dem Aufstieg von RasenBallsport Leipzig in der Stadt ein Champions-League-Teilnehmer gewachsen. In keiner anderen Stadt hat sich der Profifußball so rasant entwickelt. Welche Auswirkungen hat das auf die Stadtentwicklung? Oder geht der Fußball an der Verwaltung vorbei?
Burkhard Jung: Nein, er geht überhaupt nicht spurlos an der Verwaltung vorbei. Für die Stadt und ihre Entwicklung hat er verschiedene Dimensionen. Erstens: einen Marketingaspekt mit internationaler Relevanz. Plötzlich wird Leipzig mit Fußball in Verbindung gebracht und umgekehrt Fußball mit Leipzig. Bei Reisen nach London oder sogar Vietnam wurde ich darauf angesprochen. Es ist erstaunlich, welche Breitenwirkung der Fußball hat. Zweitens: Innerhalb der Stadt wirkt er als Identitätsfaktor. RB Leipzig spricht Familien an, und spätestens seit dem Aufstieg in die Bundesliga ist ein „Wir sind wer“-Gefühl greifbar. Das ist vielleicht ein ähnliches Phänomen, wie es in der Bundesrepublik auf nationaler Ebene nach dem WM-Gewinn 1954 von Historikern gesehen wird. Drittens: Wir hatten das Glück, mit dem WM-Stadion in Leipzig gute infrastrukturelle Voraussetzungen für Bundesliga- und Champions-League-Spiele vorweisen zu können.
#stadtvonmorgen: Gerade wenn es um das Thema Stadionbau geht, finden sich an manch anderem Standort teils Konstellationen, die die öffentliche Hand massiv belasten. Unter welchen Umständen bewegt sich das Stadion-Thema in Leipzig? Wie engagiert ist die Kommune?
Burkhard Jung: 2000 haben wir begonnen, mit Blick auf die WM 2006 das Zentralstadion auszubauen. Wir haben uns früh für ein Public-Private-Partnership-Modell entschieden. Investiert wurden vom Bund 51 Millionen Euro, vom Investor Michael Kölmel 27 Millionen Euro, und die Stadt hat zwölf Millionen Euro übernommen. Dazu kamen Mehrkosten in Höhe von 26 Millionen Euro, die etwa im Verhältnis 2:1 zwischen Kölmel und der Stadt geteilt wurden. Inzwischen allerdings hat der Verein das Stadion vom Investor gekauft. Über den damaligen Investitionskostenzuschuss hinaus bestehen für die Stadt weder finanzielle Risiken noch offene Kredite oder Ähnliches. Der einzige absehbare Moment, in dem die Stadt eventuell wieder mit dem Stadion „in Berührung“ kommen könnte, ist in 30 Jahren. In den Verträgen gibt es nämlich eine Rückfallklausel, die besagt, dass der Verein dann die Möglichkeit hat, das Stadion wieder abzugeben, der Stadt aber den ersten Zugriff darauf gewähren müsste. Für die Stadt gibt es also keine Belastung – im Gegenteil. Unsere gemeinsame Bewerbung als Austragungsort der Europameisterschaft 2024 zeigt, wie die Stadt und der Verein als privater Stadionbetreiber und -besitzer an einem Strang ziehen.
Erfolg von RB Leipzig spiegelt urbane Entwicklung
#stadtvonmorgen: Sie haben eingangs auf die identitätsstiftende Kraft des Fußballs hingewiesen. Wie wirkt das Aufkommen des Vereins mental auf die Stadtgesellschaft?
Burkhard Jung: Leipzig verzeichnet eine dynamische wirtschaftliche und urbane Entwicklung sowie ein starkes Wachstum. Dazu gibt es eine zeitliche Koinzidenz mit dem Aufstieg von RB Leipzig in die Bundesliga. Somit spiegelt sich die gute Entwicklung der Stadt im Fußball wider, was eine hohe Symbolkraft und ein psychologisches Moment bedeutet. „Wir spielen mit in der ersten Liga“ – dieses Gefühl ist prägend dafür. Vor allem nachdem der Eindruck herrschte, der westdeutsche Bundesligafußball sauge die regionalen Talente ab. Noch vor zehn Jahren befand sich der Leipziger Fußball in einer merklich desolaten Situation, inklusive diverser Insolvenzen. Auf das Selbstbewusstsein und die Stimmung hat das Aufkommen von RB Leipzig eine positive Ausstrahlung. Davon sind auch die eingesessenen Traditionsvereine Nutznießer.
#stadtvonmorgen: Inwiefern?
Burkhard Jung: Weil insgesamt das Interesse am Fußball zunimmt und so letztlich das fußballerische Niveau in der Region sowie damit die Perspektiven für Spieler steigen. Davon profitieren auch andere Vereine der Stadt. Leipzig verfügt über eine vielseitige Fußballkultur – von Lok Leipzig und Sachsen Leipzig sowie dem traditionsreichen Bezirksligisten SV Lipsia 1893 Leipzig-Eutritzsch über den FC International, der den Integrationsaspekt stärker vertritt, bis hin zu Roter Stern Leipzig. Insgesamt haben wir in Leipzig 18.000 Mitglieder in 84 Fußballvereinen.
RB Leipzig als Marketingfaktor für die Stadt
#stadtvonmorgen: Bestehen im Amateurbereich nicht Befürchtungen, der neue Profiklub RB Leipzig könne andere überlagern?
Burkhard Jung: Hier ist eine differenziertere Betrachtung vonnöten. Tatsächlich gab es anfangs entsprechende Skepsis und Sorge, insbesondere der kleineren, ehrenamtlich getragenen Vereine. Mittlerweile hat sich diese aber als unbegründet erwiesen, da der Fußball in der Stadt insgesamt von dem Aufschwung profitiert. Allerdings hat sich dabei durchaus der Konkurrenzdruck auf andere Sportarten verstärkt. Leipzig verfügt etwa im Handball, im Judo, im Ringen, beim Schwimmen oder Turmspringen über starke Teams und ein starkes Umfeld. Die stehen bisweilen im Wettbewerb mit dem Fußball, wenn es um die Nachwuchsarbeit oder die Gewinnung von Sponsoren geht.
#stadtvonmorgen: Sie haben vom internationalen Marketingeffekt gesprochen und persönliche Ereignisse angeführt. Lässt sich dieser Effekt überhaupt konkret messen, oder wird er nicht doch überschätzt?
Burkhard Jung: Nein, er wird nicht überschätzt, auch wenn ich durchaus skeptisch bin, was die Möglichkeiten betrifft, den Marketingwert in Zahlen auszudrücken. Fakt ist, dass ein weltweites Interesse am internationalen Fußball besteht und dass mit RB Leipzig die Stadt in diesen Fokus gerückt ist. Das ist zweifellos ein Vorteil, den wir auch versuchen, ins Stadtmarketing einzubinden. Hinzu kommen weitere Effekte wie der, dass RB Leipzig selbst Arbeitgeber für rund 200 Beschäftigte ist und der Bundesligafußball nach Messungen zusätzlich rund 5.000 bis 12.000 Arbeitsplätze beeinflusst.
Neues Kapitel ostdeutscher Fußballtradition
#stadtvonmorgen: Nun füllt RB Leipzig auf der Fußballlandkarte eine große Lücke in Ostdeutschland. Würden Sie so, wie Sie dem Klub eine Integrationskraft für die Stadt Leipzig zuschreiben, diese auch auf den Osten übertragen?
Burkhard Jung: Ganz sicher. Zwar ist die Frage nach ostdeutscher Mentalität in Leipzig im Zusammenhang mit dem Fußball keine allzu drängende, da die Stadt sehr durchmischt ist. Aber dennoch ist sie nicht zu unterschätzen. Kaum ein Westdeutscher erinnert sich daran, dass Leipzig 1900 der Gründungsort des Deutschen Fußballbundes war. Der VfB Leipzig wurde 1903 erster deutscher Fußballmeister. Dazu wurden in der Stadt legendäre Länderspiele ausgetragen. Hier findet sich eine große Fußballtradition. Ähnlich ist es in anderen ostdeutschen Städten wie Dresden, Frankfurt (Oder), Rostock oder Cottbus, die alle in den vergangenen 20, 25 Jahren diesbezüglich regelrecht abgehängt wurden. In der nationalen Fußballelite kommt der ostdeutsche Fußball nur kaum vor. So ist es nun durchaus eine mentale Genugtuung und weit über Leipzig hinaus psychologisch von enormer Bedeutung, wenn ein ostdeutscher Klub plötzlich vorne mitspielt.
#stadtvonmorgen: Spielt es dabei eine Rolle, dass RB Leipzig investorengetrieben ist und es in der bundesweiten Fanszene teils hitzige Debatten über diese Kommerzialisierung des Fußballs gibt?
Burkhard Jung: Erlauben Sie ein offenes Wort: Ich empfinde diese Diskussion als scheinheilig oder bigott. Wenn Klubs wie Borussia Dortmund, die als AG strukturiert sind, eine Kommerzialisierung des Fußballs anprangern, auf Tradition pochen und dies in der Fanszene sogar zu Übergriffen führt, dann bin ich empört. Vielleicht geht RB, vielleicht gehen wir in Leipzig viel ehrlicher mit der Kommerzialisierung um, weil wir sie transparent machen und nicht so tun, als habe diese Entwicklung mit dem Vereinsfußball nichts zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Es geht um großen Sport, der braucht Finanzierung, und das ist auch ein Geschäft. Insofern sehe ich keinen Unterschied zwischen RB Leipzig und den etablierten Bundesligisten oder sogenannten Traditionsvereinen …
#stadtvonmorgen: … von denen manche lange Jahre künstlich mit Steuermitteln gepäppelt werden.
Burkhard Jung: Sie sagen es. Das ist bei uns gerade nicht der Fall. Hier werden keine Steuermittel eingesetzt, um das Tagesgeschäft eines Profifußballklubs zu finanzieren. Insofern begrüßen wir unternehmerisches Engagement.
Das Interview lief 2018.