„Modellregion“ ist das neue Zauberwort im Kampf gegen die Coronakrise. Dabei wurde der ambitionierte Vorschlag von OBM Boris Palmer, dass Tübingen eine Modellstadt für Coronalockerungen werden könnte, anfangs von manchen als fixe Idee abgetan. Doch während Bund und Länder nach Monaten des Konferierens noch immer keine flächendeckende Teststrategie vorweisen können, geht Palmer voran. Und nicht nur dutzende Kommunen wollen seinem Vorbild folgen – mit dem Saarland eifert ihm jetzt sogar ein ganzes Bundesland nach.
Palmers „Modellstadt“-Idee anfangs skeptisch beäugt
Dabei sorgte Palmers Idee ursprünglich für ein Kopfschütteln. In einem Schreiben vom 16. Februar an Bundeskanzlerin Angela Merkel, Bundefinanzminister Olaf Scholz und den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann machten sich er und zwei seiner Kollegen Luft. Die drei Oberbürgermeister Palmer, Richard Arnold aus Schwäbisch Gmünd und Matthias Klopfer aus Schorndorf wiesen auf die Unzulänglichkeiten der Coronapolitik hin – und machten Vorschläge.
Unter anderem den, dass Städte mit niedriger Inzidenz ihre „Innenstadtbezirke komplett öffnen können, wenn ein negativer Schnelltest vorgewiesen wird“. Dafür sollten die Städte Schnellteststationen an den Zugängen zur City einrichten. Die Idee klang ein wenig nach der Zugangskontrolle für ein mehrtägiges Rockfestival: „Einlass in Geschäfte, Restaurants und Kultureinrichtungen erhält nur, wer den an der Teststation ausgegebenen personalisierten Badge als Nachweis für einen negativen Test sichtbar mit sich führt.“
Übersetzt könnte man sagen: Kommunen als Türsteher für die eigene Innenstadt. Wie das gehen soll und wie die Städte die Ressourcen dafür aufbringen sollen, war dem Schrieb nicht zu entnehmen. So traf die Idee nach Informationen der OBM-Zeitung in Kreisen führender Stadtlenker Deutschlands anfangs auf Skepsis. Ihre Erfolgschancen wurden als gering eingeschätzt. Doch Palmer trieb sein Vorhaben voran. Vor Ort, in Tübingen, startete er das Modellprojekt.
„Tübinger Tagesticket“ als umstrittenes Erfolgsmodell

OBM Boris Palmer aus Tübingen (Quelle: Stadt Tübingen/Gudrun de Maddalena)
Seit dem 16. März – vorerst bis Ostersonntag – stellt die Stadt also ihr „Tübinger Tagesticket“ aus. Dafür hat sie in Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz im Stadtgebiet mehrere Teststationen eingerichtet. Wer negativ auf das Coronavirus getestet ist, kann mit diesem Nachweis die Angebote der Innenstadt wieder nutzen. Kultur, Gastronomie und Handel öffnen wieder.
Bislang funktioniert das Tübinger Modell. Denn trotz der lokalen Lockerungen und der höheren Testintensität bleibt die Inzidenz auf stabil niedrigem Niveau. Täglich sammelt die Stadt neue Erfahrungen: Um etwa das Warten auf die Testergebnisse an den Stationen zu reduzieren, gibt es diese mittlerweile aufs Handy, verknüpft mit einem QR-Code am Armband. Wer negativ getestet ist, kann den QR-Code einfach als Tagesticket nutzen.
Das Modellprojekt hat die Zustimmung des Landes Baden-Württemberg und findet unter wissenschaftlicher Beobachtung des örtlichen Universitätsklinikums statt. Aber dass Tübingen auf diese Weise die City wieder belebt, löste nicht überall begeisterte und vorbehaltlose Unterstützung aus. OBM Peter Boch aus Pforzheim beispielsweise schrieb an Ministerpräsident Kretschmann und brachte am 17. März in einer Pressemitteilung sein „Unverständnis“ bezüglich dieses „kleinteiligen und wenig repräsentativen Vorgehens“ zum Ausdruck.
In jeder anderen Stadt sei es „gegenüber den Einzelhändlern und Gastronomen nur schwer vermittelbar, warum ein solches Projekt nicht auch in Pforzheim oder parallel in anderen Kommunen möglich sein sollte“. Er wolle „nicht benachteiligt werden“. Daher schlug Boch vor, auch aus Pforzheim eine „Modellgroßstadt“ zu machen. Heute trat er dafür ein, das Tübinger Modellprojekt „nun schnell auszuweiten“ und zwar landesweit.
Tübinger Modell findet Eingang in Bund-Länder-Beschlüsse
Am 21. März forderte auch der baden-württembergische Gemeindetag hinsichtlich der Bund-Länder-Gespräche eine „Perspektive für testbezogene Öffnungen“ und eine landesweite Ausweitung des Tübinger Modells – sofern sich die dortigen Erfahrungen als positiv erwiesen. Und tatsächlich fand das Tübinger Modell am 22. März Eingang in die Unterredung zwischen Bundeskanzlerin Merkel und den Ministerpräsidenten.
So sehen die Bund-Länder-Beschlüsse die Möglichkeit zeitlich befristeter Modellprojekte in ausgewählten Regionen vor, um die Umsetzbarkeit von Öffnungsschritten zu erproben. Voraussetzungen sind dafür etwa negative Testergebnisse als Zugangskriterium, IT-gestützte Prozesse zur Kontaktnachverfolgung und die Anbindung an den öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Bayern wollen derartige Modellprojekte bereits zulassen.
In Bayern haben etwa die Stadt Kempten im Allgäu, Stadt und Landkreis Aschaffenburg oder die Stadt Bayreuth schon entsprechende Bewerbungen an die Staatsregierung abgegeben. In Nordrhein-Westfalen greifen unter anderem die Städte Münster und Aachen das Thema auf. Derweil mahnt OBM Felix Heinrichs aus Mönchengladbach: „Viel lieber wäre mir, wenn die Landesregierung landesweit entsprechende Regelungen ermöglicht, statt zu einem Wettrennen unter Kommunen aufzurufen.“
Wettrennen um den Status als Coronamodellkommune
Das Tübinger Modell strahlt einen Hoffnungsschimmer durch die Coronawirren, und das Wettrennen darum hat längst begonnen. Der baden-württembergische Gemeindetag verzeichnet „in den letzten Tagen eine dreistellige Anzahl an Mitgliedskommunen, die alle großes Interesse daran haben, Öffnungen auf der Grundlage von Testkonzepten umzusetzen“. Das drängende Streben der Städte nach einer Alternative zum Lockdown als Strategie gegen die Krise offenbart auch, wie perspektivlos sich Bund und Länder bislang von Lockdown zu Lockdown hangeln. Mit dem Tübinger Modell scheint endlich eine Öffnungsperspektive nahe zu sein – und viele Kommunen greifen danach, mehr oder weniger verzweifelt. Auch dafür steht der Begriff „Modellregion“ irgendwie.
Bundesweit fordern Städte ihre jeweilige Landesregierung dazu auf, ihnen modellhafte Öffnungsschritte in Verbindung mit einer lokalen Teststrategie zu erlauben. Dies betrifft in Hessen beispielsweise die Städte Fulda und Frankfurt am Main. In Brandenburg will Cottbus Coronamodellkommune werden. Es gebe „eine große Erwartungshaltung“ in der Bevölkerung dahingehend, „ein Leben mit dem Virus zu ermöglichen“, teilt OBM Holger Kelch aus Cottbus heute mit. „Wir wollen Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates und in die Lebensperspektiven zurückgewinnen.“
In Baden-Württemberg bewirbt sich gleich eine ganze Region – der Ortenaukreis mit den Städten Achern, Kehl, Lahr, Oberkirch und Offenburg – ebenfalls um die Durchführung eines Modellprojekts. Landrat Frank Scherer und die OBM Klaus Muttach, Toni Vetrano, Markus Ibert, Matthias Braun und Marco Steffens schlagen gemeinsam vor, den gesamten Ortenaukreis zur Modellregion zu machen. Mit einer engmaschigen Teststrategie wollen sie Öffnungsperspektiven für Einzelhandel, Gastronomie, Kultureinrichtungen sowie Kitas und Schulen erarbeiten.
Saarländischer Städte- und Gemeindetag warnt vor Überlastung
Der saarländische Ministerpräsident Tobias Hans geht einen Schritt weiter und definiert schlicht das ganze Bundesland als Modellregion. Damit will er nach Ostern aus dem strengen Lockdown aussteigen und testbasierte Lockerungen wagen. Dies begrüßt der saarländische Städte- und Gemeindetag in einer heutigen Meldung grundsätzlich. Die Kommunen täten „ihr Möglichstes zu einer erfolgreichen Umsetzung der neuen Strategie“, heißt es. „Sie befürchten aber auch, dass manche Kommunen an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit kommen könnten.“
Bereits jetzt seien die Personalressourcen der Kommunen etwa für die Kontaktnachverfolgung oder in Test- und Impfzentren gebündelt, mahnen die Verbandspräsidenten, Bürgermeister Hermann Schmidt aus Tholey und OBM Jörg Aumann aus Neunkirchen. „Wenn nun gleichzeitig die kommunalen Einrichtungen wie Sport- und Kultureinrichtungen wieder geöffnet und die Testmöglichkeiten in den Testzentren der Städte und Gemeinden erheblich erweitert werden, fehlt dieses an anderer Stelle eingesetzte Personal“, warnt der Verband. Zudem dürften die Kommunen nicht auf den Kosten für die Testungen „sitzen bleiben“ oder damit überfordert werden, sondern müssten in die Lockerungspläne eingebunden werden.
Tübinger Modell: Berechtigte Hoffnung oder zu hohe Erwartungen?
Sind die Hoffnungen, die das Tübinger Modell weckt, also zu groß? Schließlich ist es noch nicht einmal abgeschlossen, geschweige denn ausgewertet. Trotzdem gilt es vielen schon jetzt als ein Wegweiser aus der Krise. So voreilig es war, Palmers Idee abzutun, so blauäugig wäre es aber zumindest nach aktuellem Kenntnisstand, das Tübinger Modell mit der Hoffnung auf einen endgültigen Sieg über die Pandemie aufzuladen.
Palmer hat derweil andere Sorgen. Denn auch er sieht sich hohen Erwartungen ausgesetzt, die das Modellprojekt gefährden könnten. In einer heutigen Pressemitteilung weist der OBM Gäste ab, die nach Tübingen zum Shoppen kommen wollen – so groß ist der Andrang.
„Unser Modellvorhaben soll klären, ob es möglich ist, das normale Stadtleben wiederzugewinnen“, sagt Palmer. „So groß die Sehnsucht danach ist, können wir doch als kleine Stadt diese nicht für halb Süddeutschland stillen.“ Daher bleibe der Großteil der Tagestickets am Samstag für Tübinger reserviert. Eine überfüllte Stadt sei kontraproduktiv für das Modellprojekt.
Palmer: „Tübingen ist immer eine Reise wert. Aber ich bitte alle, die nun eine weite Anfahrt auf sich nehmen würden, um das Flair unserer Stadt zu genießen, diesen Plan auf den Sommer zu verschieben.“ Das ist angesichts der nun schon ein Jahr währenden Krise ein optimistisches Zeitfenster. Aber für ambitionierte Vorhaben ist Palmer ja gut. Schau’n mer mal.