Die Ukrainekrieg hat eine große Solidarität mit den Menschen in der Ukraine zur Folge. Gleichzeitig bekommen auch russischstämmige Menschen in Deutschland die Ablehnung gegenüber der russischen Aggression zu spüren. Was macht das mit einer Stadtgesellschaft? Die baden-württembergische Stadt Lahr im Schwarzwald ist stark geprägt von aus der ehemaligen Sowjetunion stammenden Teilen der Bevölkerung. Wie wird der Ukrainekonflikt hier aufgenommen? Darüber spricht Oberbürgermeister Markus Ibert. Er formulierte zuletzt einen Appell für ein „friedliches und solidarisches Zusammenleben“ vor Ort in Lahr. (Das Interview stammt vom 17. März 2022.)
10.000 Spätaussiedler unter 48.000 Einwohnern
#stadtvonmorgen: Herr Ibert, Lahr zeichnet sich durch einen hohen Anteil russischstämmiger Bevölkerung aus. Wenn Sie auf die Stadtgesellschaft vor dem 24. Februar 2022, dem Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, schauen: Welche Besonderheiten ergeben sich daraus für das Leben in der Stadt?
Markus Ibert: Lahr hat rund 48.000 Einwohner. Darunter sind Menschen aus über 100 Nationen. Davon sind etwa 350 russische Staatsangehörige und etwa 100 ukrainische. Einen großen Teil der Stadtgesellschaft machen rund 10.000 sogenannte Spätaussiedler aus. Dabei handelt es sich um deutsche Staatsangehörige, die in den 1990er Jahren zurückkehrten nach Deutschland. Es sind Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion, nicht nur aus Russland. Teils lebten sie dort in deutschen Communities …
#stadtvonmorgen: … und werden hier in Deutschland ebenfalls als Ankömmlinge aus der Fremde begriffen …
Markus Ibert: In der Tat mag das mancherorts so sein. In Lahr hingegen sind sie sehr gut integriert. Die Stadt hat sich in den vergangenen Jahren auch sehr dafür engagiert. Manche behalten Züge ihrer sowjetischen Wurzeln und Kultur eher bei, andere legen diese eher ab. Doch es gibt keine Parallelgesellschaften. Die Menschen begegnen sich an Arbeitsplätzen, in Kitas oder auf Stadtfesten. Die Spätaussiedler sind nicht nur in Lahr angekommen, sie gehören längst zur Stadt.
Zusammenleben ruhig und friedlich
#stadtvonmorgen: Die Zahl von 10.000 Spätaussiedlern bei 48.000 Einwohnern ergibt eine hohe Quote. Wieso ist das so?
Markus Ibert: Der wesentliche Grund dafür war der Status Lahrs als Militärstandort nach dem Zweiten Weltkrieg. Erst waren Franzosen, ab 1967 Kanadier hier stationiert. Lahr war das Hauptquartier der kanadischen Streitkräfte in Europa. In den 1990er Jahren kamen zwei Entwicklungen zusammen: Die Kanadier zogen ab, und es wurden dadurch viele Wohnungen frei. Gleichzeitig kamen die Spätaussiedler zurück in die Bundesrepublik – und fanden in Lahr eben Wohnraumangebote. Für die Stadt ergab sich daraus eine große Integrationsaufgabe. Die ist gemeistert: Das Zusammenleben gestaltet sich ruhig und friedlich.
#stadtvonmorgen: Das ist die Bestandsaufnahme vor dem 24. Februar 2022. Wie ist die Situation heute?
Markus Ibert: Natürlich gab es vor dem 24. Februar bereits Diskussionen in der Stadtgesellschaft. Aufgrund der beschriebenen Historie gibt es aus Lahr zahlreiche Verbindungen in die ehemalige Sowjetunion, auch nach Russland und in die Ukraine. Schon vor dem – ich möchte betonen: völkerrechtswidrigen – russischen Angriff waren Sorgen greifbar. Mit dem Krieg in der Ukraine sind Befürchtungen Realität geworden. Das geht an unserer Stadtgesellschaft nicht spurlos vorbei. Die Diskussionen laufen bisweilen wohl emotionaler als anderswo, weil viele der hier lebenden Menschen aufgrund verwandtschaftlicher Beziehungen „näher dran“ sind an der Ukraine und an Russland. Da gibt es schon harte Kontroversen innerhalb der Community. Außerdem höre ich immer wieder neue Unsicherheiten: Viele der Spätaussiedler sehen sich nun in eine Ecke gedrängt. Seit 30 Jahren sind sie Teil der deutschen Gesellschaft. Nun haben manche den Eindruck, sich für einen Angriffskrieg rechtfertigen zu müssen, mit dem sie nichts zu tun haben, den sie nicht einmal gutheißen.
Ukrainekrieg sorgt für lokale Spannungen
#stadtvonmorgen: Schlägt ihnen harte Ablehnung entgegen?
Markus Ibert: So weit würde ich nicht gehen. Doch viele der Menschen, die aus der Sowjetunion zurückkamen, fühlen sich nun gleichgesetzt mit dem Regime von Wladimir Putin. Das empfinden sie als hochgradig ungerecht – leben sie doch seit 30 Jahren in Deutschland. Gleichwohl gibt es natürlich auch innerhalb der heterogenen Gruppe der Spätaussiedler unterschiedliche Auffassungen bezüglich des Krieges. Schließlich läuft in manchen Zimmern der russische TV-Sender RT.
#stadtvonmorgen: Sie haben zuletzt einen Appell für ein „friedliches und solidarisches Zusammenleben“ formuliert. Sie sagen, der Krieg dürfe sich nicht auf die Stadtgesellschaft auswirken und warnen vor einem „Keil zwischen den Menschen unterschiedlicher Herkünfte und Nationalitäten in Lahr“. Was sagen Sie den Menschen, wie wollen Sie diesem Keil entgegenwirken?
Markus Ibert: Dem Keil lässt sich entgegenwirken, indem man auf das hohe Maß an Solidarität, Hilfsbereitschaft und Zuwendung hinweist, das allgemein aus der Stadtgesellschaft, speziell aber auch von Spätaussiedlern für die Menschen in der Ukraine kommt. Das Engagement ist unglaublich groß.
„Wir reden viel mit den Menschen“
#stadtvonmorgen: Welche Signale können Sie als Oberbürgermeister, kann die Stadt senden, um die Gefahr einer Spaltung überhaupt nicht aufkommen zu lassen?
Markus Ibert: Wir reden viel mit den Menschen, wir sind vor Ort. Das gilt auch für die Quartiersarbeit und für Street Worker, die sensibel für das Thema sind. Wir haben eine Koordinationsstelle eingerichtet, die die städtische Ukrainehilfe strukturiert – von Unterbringungsmöglichkeiten bis hin zu Versorgungsfragen – und private Akteure miteinander vernetzt. Ich werbe dafür und appelliere an Spätaussiedler, die hiesigen Informationsmöglichkeiten und Medien zu nutzen, um sich mit Freunden und Verwandten beispielsweise in Russland über den Krieg auszutauschen und gegebenenfalls darüber zu berichten, was man in russischen Medien nicht sieht. Was die Debatte in Lahr betrifft, meine ich, dass man bei aller Kontroverse nicht alles überhöhen sollte.
#stadtvonmorgen: Sie haben den russischen Fernsehsender angesprochen: Glauben Sie, dass die russische Propaganda auch hierzulande verfängt?
Markus Ibert: Das ist schwer zu beurteilen. Wie stark das die Menschen beeinflusst, weiß ich nicht. Wichtig ist, dass die Menschen im Austausch und direkten Kontakt zueinander bleiben.
Debattenkultur als Friedensarbeit
#stadtvonmorgen: Sie sagen, man solle in der lokalen Debatte nicht alles überhöhen. Muss eine demokratische Stadtgesellschaft konträre, etwa prorussische Positionen aushalten? Das sagt sich so leicht, ist in Bezug auf den Krieg in der Ukraine aber sehr schmerzhaft.
Markus Ibert: Ja, das muss sie. Ich sehe es durchaus so, dass die russische Aggression auch auf unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte abzielt. Doch der Meinungsstreit ist gerade das Wesen unserer Demokratie – solange die Grenzen der Strafbarkeit nicht überschritten werden, etwa mit rassistischen oder antisemitischen Äußerungen. Innerhalb dieses Meinungsstreits ist es legitim, konträre Positionen einzunehmen. Meines Erachtens müssen wir in der Lage bleiben, zu diskutieren – dies lieber unbequem und schmerzhaft als überhaupt nicht.
#stadtvonmorgen: Die Debatte als Friedensarbeit?
Markus Ibert: Ja. Denn immer dort, wo nicht mehr gesprochen wird, werden Auseinandersetzungen mit anderen Mitteln ausgetragen.
Stadt in „gespannter Erwartung“
#stadtvonmorgen: Wie ist denn im Augenblick die Gesamtstimmung in der Stadt?
Markus Ibert: Die Stimmung ist in der Tat etwas bedrückt. Die meisten Menschen kennen den Krieg höchstens aus dem Fernsehen, und nun spielt er sich in einer gewissen räumlichen Nähe ab. Das wirft viele Fragen und Sorgen auf. Hinzu kommt, dass wir gerade noch in einer anderen Krise, der Coronakrise, stecken. Die Pandemie hat die Menschen extrem gefordert. Mit Blick auf die immensen Migrationsbewegungen, die nun auch in Lahr ankommen, würde ich außerdem von einer gespannten Erwartung sprechen.
#stadtvonmorgen: Wie meinen Sie das?
Markus Ibert: Es weckt Erinnerungen an die sogenannte Flüchtlingskrise 2015. Wir haben mit Flüchtlingsströmen zu rechnen, nicht nur aus der Ukraine, sondern womöglich auch aus Russland. Ich glaube nicht, dass alle Auswirkungen des Krieges bereits jetzt absehbar sind. Die Städte – eben auch Lahr – werden an vielen Stellen darauf reagieren müssen, was Kindergärten, Schulen, Betreuungsangebote, Integrationsleistungen betrifft. Es ist tatsächlich eine Zeitenwende. Wir erwarten, dass zeitnah die ersten Menschen aus der Ukraine über die Landeserstaufnahmestelle zu uns kommen.
#stadtvonmorgen: Manche Städte stoßen bereits jetzt an Kapazitätsgrenzen – in Lahr gibt es im Augenblick noch keine Überlastung, was die Unterbringung von Menschen angeht?
Markus Ibert: Nein, das ist nicht der Fall. Die Lage vor Ort ist noch nicht angespannt. Gleichwohl können auch wir nicht genau sagen, wie viele ukrainische Schutzsuchende sich konkret im Augenblick in der Stadt aufhalten. Manche kommen eventuell bislang bei Verwandten oder Freunden unter. Das wissen wir erst, wenn sie sich tatsächlich bei uns registriert haben.