Die Coronakrise sorgt für massive Umwälzungen. Davon betroffen sind auch Innenstädte. Viele Oberbürgermeister fürchten ein Ausbluten des lokalen Einzelhandels und damit ein Veröden ihrer Zentren. Welche Strategien gibt es dagegen, wie ist dieser Wandel zu gestalten und mit wichtigen Schlüsselimmobilien umzugehen? Im Interview plädiert Simon Hübner, Vorstandsmitglied beim Immobilienentwickler GBI, bei der Entwicklung von Quartieren sowie Zentren stärker auf die Vielfalt von Nutzungsoptionen zu achten. Dies mache Städte resilienter.
Die Coronakrise beschleunigt einen Wandel der Innenstädte
OBM: Herr Hübner, in deutschen Innenstädten finden tiefgreifende Transformationsprozesse statt. Im Augenblick mehren sich die Stimmen, die angesichts der Coronakrise und des damit verbundenen Drucks auf den stationären Einzelhandel ein Ausbluten der Zentren befürchten. Wie blicken Sie als Immobilienentwickler auf dieses Thema?
Simon Hübner: Tatsächlich durchleben die Innenstädte einen großen Wandel. Der hat schon deutlich vor der Coronakrise eingesetzt, wird durch sie aber zusätzlich beschleunigt. Er stellt sowohl Projektentwickler als auch die Städte vor die Frage, wie sie mit den sich verändernden Bedürfnissen der Bevölkerung umgehen. Es geht unter anderem um den Trend zum Onlinehandel. Vorab: Ich glaube nicht, dass dieser den stationären Einzelhandel komplett zurückwirft. Doch es stimmt: Das Kaufverhalten der Menschen und wann sie in die Innenstädte gehen ändern sich. Dies betrifft etwa große Warenhäuser, die massive Frequenzverluste hinnehmen müssen. Offenbar verbindet die Gesellschaft neue Bedürfnisse mit ihren Innenstädten. Dies hat Leerstände zur Folge und bringt für Städte die Herausforderung mit sich, Umnutzungen und Revitalisierungen zu organisieren, etwa von großen Gewerbeflächen. Das wiederum wirft in der Stadtgestaltung vielschichtige andere Fragen auf, die über das einzelne Gebäude hinausgehen.
OBM: Was meinen Sie damit?
Simon Hübner: Wenn wir an die Umnutzung eines Warenhauses denken, mögen den Ideen dafür im Rahmen der Möglichkeiten des Gebäudes zunächst einmal keine Grenzen gesetzt sein. Aber: Neue Nutzungen bedürfen anderer Voraussetzungen als denen für eine Einzelhandelsimmobilie. Beim Warenhaus geht es beispielsweise um die Erreichbarkeit von Lkw für die Anlieferung der Waren. Ein kombiniertes Wohn- und Geschäftshaus braucht eine solche Erreichbarkeit in dieser Form nicht. Stattdessen rückt der Aspekt des gesunden Wohn- und Arbeitsklimas stärker in den Mittelpunkt.
Umnutzung und Revitalisierung von Gebäuden wirkt auf Quartiere
OBM: Das heißt, eine Umnutzung oder Revitalisierung darf nicht nur das einzelne Gebäude im Blick haben, sondern auch sein Umfeld ist wichtig.
Simon Hübner: So ist es. Eine innerstädtische Immobilie ist nicht isoliert und autark zu betrachten. Ihr gesamtes Umfeld spielt eine Rolle genauso wie die Frage, wohin sich die Stadt perspektivisch mit ihrer Innenstadt entwickeln will. Die Revitalisierung eines markanten Gebäudes muss sich in einen Entwicklungsprozess einordnen. Da geht es auch um die Möglichkeiten einer attraktiven Freizeitgestaltung im Umfeld der Immobilie.
OBM: Weitet das auch den Blick des Projektentwicklers, der sich aufgabengemäß eigentlich nur um ein Gebäude kümmert, auf das Quartier?
Simon Hübner: Der alleinige Fokus auf das einzelne Grundstück funktioniert zumindest für solche Szenarien, über die wir sprechen, generell nicht mehr – egal ob es sich um die Innenstadt oder ein neues Quartier am Stadtrand handelt. Der Entwickler braucht immer den Blick für das große Ganze. Es geht um ein Gesamtbedürfnis im Quartier und auch darum, welche Entwicklungsperspektiven die Kommune für das Viertel sieht. Die Menschen müssen sich dort gerne aufhalten. Etwa, weil es eine attraktive Gastronomie gibt, gefragte Einkaufsziele, Freizeitangebote und kulturelle Highlights. Also alles, was das Zentrum lebenswert macht. Und warum soll man nicht die Angebote miteinander verbinden: eine Vernissage in der Boutique, eine Buchhandlung mit Gourmetmeile, und ein Orchester spielt im Kaufhaus. Da müssen Denkgrenzen fallen. Ausnahmen davon sind möglicherweise einzelne Baulücken innerhalb eines gewachsenen Quartiers, die es nur mit einem Gebäude „aufzufüllen“ gilt, oder auch Flächen, deren Bebauung keine besonderen Effekte auf weitere Grundstücke hat.
Nutzungsmix als Zielvorgabe: Was passt zusammen?
OBM: In der Diskussion um den schrumpfenden Einzelhandel ist, neue Nutzungen in die Innenstädte zu bringen. Dazu gehören Wohnen, Arbeiten, das Handwerk. Aber funktioniert die Schreinerei neben dem Schlafzimmer? Welche Nutzungen gehen überhaupt zusammen?
Simon Hübner: Als Projektentwickler widmen wir uns intensiv dem Mixed Use, also der Frage, wie sich Raumlösungen für unterschiedliche Zielgruppen zusammenbringen und miteinander vereinbaren lassen. Das zielt sowohl auf den Mixed Use innerhalb eines Gebäudes ab als auch auf die auf mehrere Gebäude verteilte Mischung innerhalb eines Quartiers. Je größer man räumlich denkt, desto mehr Kombinationsmöglichkeiten ergeben sich. Hier haben wir Beispiele, wie sich teils konträr zueinanderstehende Nutzungen wie Wohnen, Arbeiten oder die Kita zusammenbringen lassen. Aber: Man muss sich auch der Grenzen bewusst sein. Es geht nicht nur darum, Nutzungsmischungen technisch und baulich zu ermöglichen – sie müssen in der täglichen Praxis funktionieren. Wenn in Ihrem plakativen Beispiel der Betrieb in der Schreinerei per se dazu führt, dass der Nachbar um seinen verdienten Schlaf gebracht wird, entstehen Konflikte. Dann haben die Planer einen grundlegenden Fehler gemacht.
OBM: Wo liegen denn die Grenzen, was Nutzungsmix betrifft?
Simon Hübner: Erstens dort, wo das Baurecht einzelne Nutzungen nicht mehr zulässt. Zweitens dort, wo technische Vorschriften und Normen den Kombinationen entgegenstehen. Und drittens dort, wo der Sinn und Zweck, gesunde Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu schaffen, nicht mehr erfüllbar ist. Diese drei Faktoren setzen dem Nutzungsmix innerhalb eines Gebäudes Grenzen. Dabei sind insbesondere die ersten beiden Faktoren dynamisch: Das Baurecht passt sich bisweilen dem Bedürfniswandel an. Und bei der Planung eines urbanen Quartiers, das den Bedingungen Identität, Konnektivität und Mobilität gerecht wird, können in Nuancen bestimmte Notwendigkeiten durchaus in Kauf genommen werden.
Der Wandel der Innenstädte als Gestaltungsaufgabe

Es geht um die Frequenz in der City: „Je mehr Bedürfnisse die Innenstadt abbildet, desto resilienter wird sie, desto besser ist es für die Vitalität des Zentrums – auch für den verbliebenen Vor-Ort-Handel“, sagt Simon Hübner. (Quelle: GBI Holding/Glasgow Fotografie)
OBM: Zurück zur Ausgangsfrage. Wenn wir auf die Innenstädte schauen – ist es nicht utopisch zu meinen, man könne den verschwindenden Handel zurückholen oder Innenstädte in diesem Sinne vor einer Veränderung „retten“? Wie zukunftsträchtig ist der Einzelhandel in der City überhaupt?
Simon Hübner: Der gesellschaftliche Wandel und die Veränderung der Bedürfnisse der Menschen lassen sich nicht aufhalten. Der Rückzug des Handels wird sich wohl nicht verhindern lassen. Es bleibt nur die Frage, ob ein Teil noch „zu retten“ ist. Beziehungsweise vielmehr: Wie attraktiv sich eine Stadt in diesem Veränderungsprozess entwickeln kann, dass sie dem stationären Einzelhandel auch in der Zukunft noch Standortoptionen bietet. Das können beispielsweise kleinere Ladenflächen als die eines Warenhauses sein, in denen Produkte eher ausgestellt werden, wohingegen der Kauf dann online stattfindet. Man kauft online, kommt aber zum Anprobieren und Stöbern, zur Beratung im Laden vorbei. Denn bei allem Wandel des Kaufverhaltens: Das Bedürfnis, ein Produkt vor dem Kauf sehen, anfassen oder anprobieren zu dürfen, gibt es nach wie vor – auch wenn es je nach Produktgruppe unterschiedlich ausgeprägt ist. Würde der Einzelhandel komplett verschwinden, blieben solche Bedürfnisse unerfüllt. Insofern glaube ich, dass derartige Formen des Einzelhandels in Innenstädten, verbunden mit Gastronomie, Parkanlagen und Plätzen mit hoher Aufenthaltsqualität, durchaus ihre Berechtigung beibehalten.
OBM: Nehmen wir an, Sie würden ein leerstehendes Warenhaus in einer Innenstadt entwickeln. Wie würden Sie vorgehen, was wäre zu tun?
Simon Hübner: Ein wichtiger Aspekt für späteren Entwicklungserfolg ist, früh die Kommune einzubinden. Mit der Stadt wären übergreifende Themen zu besprechen, was die Gesamtentwicklung der Innenstadt betrifft. Es geht um die Bedürfnisse der Verantwortlichen in den kommunalen Gremien sowie der Bevölkerung. Wie stehen diese in Bezug zur Immobilie? Und wie können wir als Projektentwickler einen Beitrag dazu leisten, diesen Bedürfnissen und Wünschen an das Gebäude zu entsprechen? Dies können wir beispielsweise, in dem wir in unserem Konzept für das Gebäude einen Nutzungsmix aufnehmen. Dabei gilt es, die Makrolage zu beachten, sich also einen Überblick über die verkehrstechnische Anbindung, die vorhandene Bebauung oder sonstige Nutzungsvorhaben im Quartier zu verschaffen. Erst dann kommt die Auseinandersetzung mit der Mikrolage, mit unmittelbar angrenzenden Baulücken oder Freiflächen, mit der Verbindung mit der regionalen Infrastruktur. Daraus ergibt sich, welche Hauptnutzung sinnvoll und möglich ist sowie welche unterstützenden Nutzungen möglich sind. Erst an dieser Stelle des konzeptionellen Prozesses taucht die Frage nach der architektonischen Gestaltung auf.
OBM: Hat sich die Arbeit der Projektentwickler dahingehend gewandelt?
Simon Hübner: Es ist wichtiger geworden, frühzeitig mit verschiedenen Stellen – der Stadt und der Stadtgesellschaft – zu kommunizieren. Der Blick hat sich auf die Umgebung und die stadtstrategischen Ziele geweitet. Vielleicht ist dies gegenüber der klassischen Projektentwicklung eine gewisse Neuerung.
Corona sorgt für Veränderungen beim Wohnen und Arbeiten
OBM: Welche typischen Trends stellen Sie denn fest, was Nutzungsmischungen angeht?
Simon Hübner: Aktuell, und das hat wohl auch mit Corona zu tun, stellen wir fest, dass sich die Bedürfnisse bezüglich Wohnen und Arbeiten verändern. Vor etwa zwei Jahren wurden diese Aspekte eher getrennt voneinander betrachtet. Man hat maßgeblich nicht dort gewohnt, wo man gearbeitet hat. Dies hat sich nun verändert, und damit einhergehen neue Anforderungen an Bürokomplexe, aber vor allem auch an Wohneinheiten. Die Kombination von Wohnen und Arbeiten ist wesentlich geworden für die Planung eines Quartiers. Dies hat auch Effekte auf die Infrastruktur beispielsweise auf die Nahversorgung: Zum Wohnen und Arbeiten kommen Einkauf, Freizeit im Quartier et cetera hinzu. In der Vergangenheit wurden diese Themen eher sektoral gedacht. Im Bereich Wohnen differenzierte man eher nach Zielgruppen wie Familien, Singles, Studierenden oder Senioren. Nun verschachteln sich die Themen mehr und mehr ineinander und finden Schnittmengen zu den anderen Sektoren wie Arbeiten, Einkaufen oder Freizeit. Hinzu kommen ganz neue Formate.
OBM: Zum Beispiel?
Simon Hübner: Zum Beispiel hält der gewerbliche Beherbergungsbereich in der Quartiersentwicklung Einzug. Ich denke an sogenannte Serviced Apartments für temporäres Wohnen in einer Stadt. Letztlich geht es darum, möglichst viele Bedürfnisse im Quartier abbilden zu können. Und das generationenübergreifend: Ein weiterer angesichts der Demografie zukunftsträchtiger Aspekt ist das Altenwohnen. Auch hier geht es um Kombinationen im Quartier, beispielweise mit einem Angebot sozialer Dienstleistungen, mit Ärzten, Apotheke oder einer ambulanten Pflege. Die Menschen haben das Bedürfnis, dort zu bleiben, wo sie zuhause sind. Mit innovativen Wohnkonzepten können sie dies bis ins hohe Alter. Und im Zweifel ist das Seniorenheim vielleicht in der Nachbarschaft …
Lust auf Innenstadt: Bedürfnisse der Menschen fokussieren
OBM: Wenn Sie noch einmal auf die Innenstadttransformation blicken. Die birgt insbesondere angesichts der aktuellen Debatte ein gewisses Schreckpotential. Was würden Sie einem Stadtlenker denn raten, wie er mit dem Wandel umgehen kann?
Simon Hübner: Das wichtigste ist, sich nicht von Angst leiten zu lassen, sondern die Quartiersentwicklung positiv als Gestaltungsaufgabe zu begreifen. Ohnehin lässt sich der gesellschaftlichen Entwicklung nichts entgegenstellen. Vielmehr besteht die Herausforderung, die Innenstadt attraktiv zu halten und mit den Bedürfnisse der Menschen mitzugehen. Es geht nicht darum, den Handel aufzugeben, sondern ihn dem veränderten Verhalten der Menschen anzupassen und die Rahmenbedingungen dafür bestmöglich zu gestalten. Es gilt, Anreize zu setzen, damit Menschen die Innenstadt besuchen. Das geht nicht mehr nur mit Shopping, sondern es geht um eine attraktive Gestaltung von Plätzen und Parks, um Grünzonen und Spielplätze, um Erlebnisqualität in den Zentren, um Gastronomie und Dienstleistung – all das schafft Frequenz und kommt letztendlich auch dem Einzelhandel als nach wie vor einem Glied dieser Kette zugute. Wer die Bedürfnisse der Menschen allerdings ignoriert und seine Stadt nicht danach ausrichtet, wird erleben müssen, wie die Menschen in andere Zentren ziehen oder ihre Freizeit in anderen Städten verbringen.
OBM: Sie sprechen in hohem Maße den Freizeit- und Erlebniswert von Zentren an. Aber Frequenz ließe sich doch beispielsweise auch durch den Publikumsverkehr von Verwaltungsstellen, Ämtern, Arztpraxen oder Kanzleien erzeugen…?
Simon Hübner: Selbstverständlich. All das können Elemente eines Mixed Use, einer Nutzungsmischung inklusive attraktiver Freizeitangebote, sein. Der Vielfalt sind keine Grenzen gesetzt. Im Gegenteil: Je mehr Bedürfnisse die Innenstadt abbildet, desto resilienter wird sie, desto besser ist es für die Vitalität des Zentrums – auch für den verbliebenen Vor-Ort-Handel. Die Menschen müssen Lust haben, ihre Zeit in den Innenstädten zu verbringen.
Das Foto oben zeigt ein von der GBI entwickeltes Quartier in Frankfurt am Main, das verschiedene Nutzungen vereint. Darunter sind ein Hotel, sogenannte Longstay Apartments (Citadines, Foto), studentisches Wohnen sowie eine Kita.