Noch wiegen sich auf den Feldern am südwestlichen Rand von Greven im Kreis Steinfurt nur Gräser und Wildblumen im Wind. Doch das wird sich in ein paar Jahren ändern: Ab 2027 sollen hier und an einem weiteren Standort im Stadtgebiet insgesamt 18 neue Windräder entstehen. Sie sollen Strom für rund 100.000 Haushalte liefern und jedes Jahr 180.000 Tonnen CO2 einsparen. Das Besondere daran: Die Windräder werden nicht einzelnen Großinvestoren gehören, sondern den Menschen vor Ort. Greven plant einen Bürgerwindpark.
Bürgerwindpark: An der Energiewende beteiligen
„Wir möchten möglichst viele Menschen an dem Projekt beteiligen“, erklärt Tobias Werning. Der Landwirt ist einer der Geschäftsführer der Bürgerwind-Gesellschaft, die das Vorhaben in Greven voranbringt. Dafür braucht es einen langen Atem: Erste Baugenehmigungen schlugen 2016 fehl, weil Windräder an den anvisierten Standorten noch nicht vorgesehen waren. Im Jahr 2023 wurde das Bau- und Planungsrecht schließlich angepasst. Nun ist die Vorplanungsphase in vollem Gange.
Dass das Projekt in dieser Phase liquide bleibt, ermöglicht unter anderem der Bürgerenergiefonds NRW, dessen Mittel durch die NRW-Bank vergeben werden. 300.000 Euro Fördermittel fließen in Studien, Gutachten und Genehmigungsverfahren, um die Grundlage für eine Investition vieler kleiner Kapitalgeber zu schaffen.
Die Bürger ins Boot holen
Das Grevener Bürgerwindprojekt steht exemplarisch für eine Strategie, die der Kreis Steinfurt seit Jahren konsequent verfolgt: Die Erneuerbaren Energien massiv ausbauen und dafür die Bürger mit ins Boot holen. In Sachen Energiewende ist die Region bereits weit fortgeschritten. Den eigenen Stromverbrauch bestreitet der Kreis vornehmlich aus heimischen, regenerativen Quellen: zu 62 Prozent aus Windenergie, zu 21 Prozent aus Photovoltaik und zu 15 Prozent aus Bioenergie.
Schon heute produziert man aufs Jahr gerechnet mehr Strom aus Erneuerbaren als die 450.000 Einwohner benötigen. Mit ihren knapp 300 Windenergieanlagen und einer installierten Leistung von fast 600 Megawatt rangiert die Region weit oben im NRW-Ranking. In Sachen Solarausbau belegte sie mit zusätzlichen 110 Megawatt Peak im vergangenen Jahr den landesweiten Spitzenplatz.
Auf dem Weg zur Klimaneutralität
Und trotzdem: „Für die anstehende Wärme- und Mobilitätswende müssen wir den Ausbau der Erneuerbaren Energien noch weiter vorantreiben“, sagt Ralf Marpert von der Servicestelle Wind des Vereins energieland2050. Der Verein unterstützt den Kreis Steinfurt auf dem Weg zur Klimaneutralität. Spätestens im Jahr 2040 will der Kreis klimaneutral und energieautark sein. Dafür ist zum Beispiel geplant, bis 2027 die aktuell installierte Windleistung auf 1,2 Gigawatt zu verdoppeln – durch Neubau und Repowering, den Austausch alter Windräder gegen leistungsfähigere.
Damit der Ausbau der Erneuerbaren vorankommt, hat sich der Kreis über die Jahre ein um-fassendes Ökosystem für die Energiewende im Allgemeinen und Windenergie im Besonderen aufgebaut. Aus dem 2010 aufgelegten Masterplan Windenergie folgten eine Flächenpotenzialanalyse für den gesamten Kreis („Ampelkarte“) und der Aufbau der „Servicestelle Windenergie“ als Beratungs- und Informationsstelle. Ein eigenes Amt für Klimaschutz und Nachhaltigkeit, bei dem auch der Verein energieland2050 angesiedelt ist, lädt zweimal im Jahr zum „Runden Tisch Windenergie“.
Hier treffen sich alle wichtigen Stakeholder von Naturschutzverbänden und Umweltbehörden über Kommunen, Stadtwerke, Planungs- und Gutachterbüros bis hin zu lokalen Banken zum Austausch. Kurz: Die engagierten Bürger und Unternehmer in den einzelnen Orten werden von einer gut organisierten Verwaltung im Kreis unterstützt.
Bürgerwindpark als Modell
Um für Windenergie eine breite öffentliche Akzeptanz zu erzielen und eine hohe regionale Wertschöpfung zu sichern, setzt der Kreis Steinfurt seit Jahren auf das Modell des Bürgerwinds. „Bürger müssen an der Energiewende aktiv mitwirken, um die Maßnahmen zu stützen“, sagt Marpert. Mit Erfolg: Bereits 3.500 Menschen aus der Region besitzen Anteile an elf Bürgerwindparks. Gut jedes vierte Windrad gehört damit zu großen Teilen der Bevölkerung. Die 83 Anlagen erzeugen jährlich 500 Gigawattstunden Strom.
Auf Basis der eigens entwickelten „Leitlinien für Bürgerenergie des Kreises Steinfurt“ hat der Verein energieland2050 ein eigenes Zertifizierungsmodell entwickelt. Seit dem vergangenen Jahr prüft er anhand von 40 Kriterien Bürgerwindparks, um flächendeckend einen hohen Standard für künftige Windprojekte zu verankern. So ist etwa die Mehrheitsbeteiligung von Einzelinvestoren ausgeschlossen und die direkte, unternehmerische Beteiligung der Bürger garantiert. Es werden Maßnahmen zum Artenschutz gefordert, ebenso wie die Berücksichtigung lokaler Unternehmen und Banken. Die Zertifizierung sichert Qualitäten ab und untermauert die demokratisch beschlossenen Ziele.
Die Rendite bleibt in der Region
Längst ist die Bürgerbeteiligung bei der Energiewende mehr als nur ein Umweltthema: Im aktuellen „Prognos-Zukunftsatlas“ wird für den Kreis Steinfurt der Bürgerwind als eines von zehn Zukunftsprojekten aufgeführt, die den Standort stärken. Und die Wirtschaft: Mehr als 300 Millionen Euro haben die Menschen bislang in ihre lokalen Windparks investiert. Die Rendite bleibt in der Region.
Auch in Greven ist das Interesse schon heute groß: Hunderte Bürger möchten sich nach Fertigstellung des – inzwischen erfolgreich zertifizierten – Windparks mit Kapital beteiligen. Bis zum Spatenstich in frühstens drei Jahren sind noch viele Schritte zu gehen, der nächste Meilenstein ist das Genehmigungsverfahren nach dem Bundes-Immissionsschutzgesetz. Doch schon jetzt ist klar: Mit seinen 18 Windrädern in Bürgerhand wird Greven den Kreis Steinfurt auf dem Weg in die Klimaneutralität ein gutes Stück voranbringen.
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.

