Man kann im besten Sinne behaupten, dass sich die Stadt Cottbus und die Lausitz den Titel „Net-Zero Valley“ vorausschauend gekapert haben. Denn wer im Internet auf die Adresse www.netzerovalley.eu stößt, findet hier nicht etwa eine Übersicht über eine ähnlich lautende EU-Initiative, sondern trifft auf die Präsenz eines Kooperationsprojekts aus der Lausitz, das federführend von der Stadt Cottbus vorangetrieben wird. „Die Lausitz im Aufbruch – Europas neuer Hotspot für grüne Industrie“ steht da. Und im Hintergrund ist eine Wald-, Wiesen- und Wasserlandschaft, gespickt mit Windrädern, Photovoltaikmodulen und energiespeicherähnlichen Gebäuden, abgebildet.
Lausitz will erstes Net-Zero Valley werden
Die einst von Braunkohle geprägte und nach dem Kohleausstieg nun dem Strukturwandel unterworfene Lausitz möchte zum ersten europäischen „Net-Zero Valley“ werden. Diesen Anspruch untermauerte sie am Donnerstagabend beim jährlichen Empfang der Cottbusser Industrie- und Handelskammer, zu dem unter anderem Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke kam. Dabei stellte sie die Struktur ihres nach eigenen Angaben „europaweit einzigartigen Beteiligungsprozesses“ vor. Es geht darum, die Region zu einem führenden Standort der Net-Zero-Industrie mit globaler Relevanz zu formen und sie dafür im europäischen Kontext zu verankern.
„Der Lausitzer Weg“ – so ist das Vorhaben überschrieben. Die Besonderheit des Beteiligungsprozesses: Die Region ist laut Presseverlautbarung „die erste Region Europas, die sich bereits vor Wochen als Zukunftsstandort für die Neuverteilung klimafreundlicher Industrie in der EU ins Spiel gebracht hat“. Dabei verfolgt sie einen Bottom-up-Ansatz. Ihre Bewerbung beteiligt länderübergreifend die regionalen Akteure: Kommunen, Verbände, Wirtschaft und Wissenschaft. Es geht um ein gemeinschaftliches Zukunftsbild, hinter dem sich alle versammeln.
Net-Zero Valleys als Booster der Net-Zero-Industrie
Hintergrund des Engagements der Lausitz ist der sogenannte Net-Zero Industry Act (NZIA). Er zielt darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit der EU hinsichtlich der industriellen Transformation und der Produktion klimaneutraler Technologien zu stärken sowie entsprechende Wertschöpfungsketten in Europa zu etablieren. Wirtschaftspolitisch geht es darum, die europäische Net-Zero-Industrie aufzubauen, zu halten und weiterzuentwickeln. Klimapolitisch sollen dies die industriellen Grundlagen für die klimaneutrale Energieversorgung auf dem europäischen Kontinent sichern.
Im Net-Zero Industry Act ist die Rede von Net-Zero Acceleration Valleys, also von Regionen, in denen der Aufbau der Net-Zero-Industrie beschleunigt und die diesbezüglichen Rahmenbedingungen verbessert werden. Für das Verständnis von Net-Zero-Industrie definiert der NZIA insgesamt 19 Themenfelder beziehungsweise Branchen. Darunter sind unter anderem Photovoltaik und Solarthermie, Windkraft, Batterie- und Speichertechnologie, Wärmepumpen und Geothermie, Wasserstofftechnologie, Wasserkraft oder Technologien zur CO2-Speicherung und -Bindung.
Cottbus ist Motor der Lausitzer Net-Zero-Initiative
Die Lausitz will nach eigenen Angaben einen „Pionierbeitrag für die wirtschaftliche Transformation Europas“ leisten. Sie bewirbt sich beim Bund darum, als ein deutsches Net-Zero Valley im europäischen Kontext ausgewählt zu werden. Dafür engagiert sich eine die Länder Sachsen und Brandenburg übergreifende Arbeitsgruppe. Die diesbezüglichen Anträge sollen laut Prozessschema bis zum Jahreswechsel gestellt sein. „Die Stadt Cottbus versteht sich als Motor des Strukturwandels in der Lausitz“, erklärt Oberbürgermeister Tobias Schick. In diesem Geist habe die Stadt bei dem Vorhaben die regionale Federführung übernommen.
Sollte sie tatsächlich als Net-Zero Valley ausgewählt werden, erhofft sich die Region davon insbesondere regulatorische Standortvorteile und verbesserte Rahmenbedingungen für Unternehmen. Unter anderem erwartet sie, langwierige Genehmigungsverfahren als Modellregion ausnahmsweise verschlanken und dadurch Ansiedlungen oder Erweiterungen vorhandener Industrien entscheidend beschleunigen zu können. Zudem erhofft sie sich von der Cluster- und Markenbildung eine Ausstrahlungskraft.
Bessere Rahmenbedingungen für die Net-Zero-Industrie
„Wir wollen für die heimische Wirtschaft bessere, interessantere, lohnende, aber auch herausfordernde Rahmenbedingungen für ihre Entwicklung schaffen“, sagt Schick. „Das Net-Zero Valley ist ein wesentlicher Baustein dazu für die ganze Lausitz.“ Die vom Strukturwandel betroffene Region befindet sich ohnehin in einem dynamischen Wandel. Der Aufbau der Net-Zero-Industrie könnte ihr komplementär zum durch den Kohleausstieg bedingten Strukturwandel zusätzliche Chancen eröffnen.
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.