Die zentralen Fragen unserer Zeit entscheiden sich zunehmend in unseren Städten, und es sind unsere Städte, an die sich die nationale und europäische Politik in Krisenzeiten wenden muss. In den vergangenen Jahren haben wir bei der Bewältigung globaler Herausforderungen wie der Covid-Pandemie und den Auswirkungen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine unsere Reaktionsfähigkeit und unsere zentrale Rolle unter Beweis gestellt und gleichzeitig Maßnahmen zur Verbesserung der Energie- und Ernährungssicherheit in Europa ergriffen. Wir haben Impfzentren eingerichtet und Informationen verbreitet, Migrantinnen und Migranten aufgenommen, Hilfe bereitgestellt sowie erneuerbare Energien vor Ort gefördert und dabei auch neue Verbindungen zu ländlichen Gemeinden geknüpft.
Wir erwarten, dass wir ein Mitspracherecht haben
Um die aktuellen Herausforderungen an der Wurzel zu packen, müssen wir uns international und über unsere Verwaltungsgrenzen hinaus engagieren. Alleingänge würden zu einem Flickenteppich führen, obwohl es doch um Themen von großer strategischer und geopolitischer Bedeutung geht. Deshalb arbeiten wir mit anderen Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern über Städtenetzwerke zusammen; und als Bürgermeisterinnen und Bürgermeister großer europäischer Städte erwarten wir, dass wir ein Mitspracherecht bei Themen haben, die früher allein in der Zuständigkeit der Nationalstaaten lagen. Dies geschieht bereits, wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg.
Die Städte haben bei der Umsetzung des Pariser Abkommens und des europäischen „Green Deal“ eine Vorreiterrolle eingenommen und mit der Industrie und der Zivilgesellschaft zusammengearbeitet, um das 1,5-Grad-Ziel bei der Begrenzung der globalen Erwärmung zu erreichen. Das Gleiche gilt für den Kampf gegen Ungleichheiten oder für die digitale Transformation. In den Städten sind viele der großen Herausforderungen unserer Zeit auf der Tagesordnung und werden für die Menschen greifbar.
Ausschlaggebend für ein klimaneutrales Europa
Dennoch wird dieses Engagement zu oft als selbstverständlich angesehen. Im Vorfeld der Wahlen für das Europäische Parlament im nächsten Jahr sehen wir zum Beispiel, dass die Entschlossenheit für Klima- und Umweltschutzmaßnahmen schwächer wird. Viele nationale und einige europäische Politiker schrauben ihre Ambitionen bereits zurück. Auf städtischer Ebene ist unser Engagement jedoch nach wie vor groß.
Subnationale Behörden sind für die Umsetzung von über 70 Prozent der EU-Rechtsvorschriften verantwortlich. Als die politische Ebene, die den Menschen und der Wirtschaft am nächsten ist, genießen wir als städtische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger ein hohes Maß an Vertrauen in der Öffentlichkeit und verstehen die unterschiedlichen Bedürfnisse der Bevölkerung im Detail. Das ist ausschlaggebend für die langfristigen Ziele der EU für ein klimaneutrales Europa bis 2050.
Eine engere Beziehung zwischen Städten und EU
Wir haben auch die Verpflichtung, die Menschen in die öffentliche Politik einzubeziehen, ebenso wie andere lokale und regionale Partner, auch durch territoriale Zusammenarbeit mit unseren umliegenden ländlichen Gebieten. Auf EU-Ebene gibt es mehrere Beispiele dafür, dass eine engere Beziehung zwischen Städten und der EU gut funktionieren kann.
Die EU-Kohäsionspolitik ist weiterhin von entscheidender Bedeutung, um eine nachhaltige Stadtentwicklung zu fördern. In der vergangenen Förderperiode kamen Mittel in Höhe von fast 15 Milliarden Euro direkt den Städten und ihren Bürgerinnen und Bürgern zugute. Sie haben neue Ansätze für städtische Investitionen ermöglicht und zur Entwicklung von 1.000 Strategien für eine nachhaltige Stadtentwicklung beigetragen.
Die EU-Mission „100 klimaneutrale und intelligente Städte“ ist ein weiterer positiver Schritt und ein mutiger Ansatz für Klimaneutralität, der berücksichtigt, wie Städte in der Praxis funktionieren. Kürzlich wurde die Europäische Stadtentwicklungsinitiative (European Urban Initiative) ins Leben gerufen, die Instrumente und Finanzmittel für Städte im Rahmen vieler verschiedener Programme zusammenführt und verstärkt. Weitere Modelle sind der partnerschaftliche Ansatz der Urbanen Agenda für die EU und die von den EU-Ministern im Jahr 2020 vereinbarte Neue Leipzig-Charta, die den Grundstein für eine echte Partnerschaft mit den lokalen Behörden legt.
Potenzial der Städte nicht ausreichend berücksichtigt
Dennoch sind rund 50 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister laut der jüngsten Eurocities Pulse Mayors Survey 2023 der Meinung, dass die EU-Institutionen und die EU-Politik die spezifischen Bedürfnisse und das Potenzial der Städte nicht ausreichend berücksichtigen.
Hierfür gibt es mehrere Erklärungen. Eine wachsende Zahl von EU-Initiativen, die sich an Städte richten, deutet zwar auf eine echte Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit Städten hin. Allerdings kann es auch zu einem Wettbewerb zwischen diesen Initiativen und zu Spannungen zwischen neueren und etablierten Programmen kommen. Für die lokalen Behörden kann es mühsam sein, sich an mehreren Initiativen zu beteiligen und sich auf mehrere spezifische Ziele zu konzentrieren – und das oft ohne zusätzliche finanzielle Mittel.
Gemeinsam globale Herausforderungen lösen
Strukturen und internationale Dialoge zu schaffen, die Vertreterinnen und Vertreter der Städte in die politische Planung einbeziehen, ist von grundlegender Bedeutung, um die Zusammenarbeit zwischen den politischen Ebenen sicherzustellen. Als Bürgermeisterinnen und Bürgermeister wollen wir nicht nur gelegentlich in europäischen und internationalen Foren das Wort erhalten, sondern einen ständigen Dialog mit unseren nationalen Regierungen und den europäischen Institutionen führen, damit unsere Beiträge zu internationalen Prozessen und Rahmenvereinbarungen repräsentiert sind. Nur so können wir gemeinsam erfolgreiche Lösungen für globale Herausforderungen entwickeln.
Auf globaler Ebene bilden die Ziele für nachhaltige Entwicklung für viele Städte einen Rahmen für ihre langfristigen Strategien und Planungen. Und als Spitzen nationaler Städtenetzwerke sind wir Teil der Urban-Seven-Gruppe. Wir setzen uns für einen kontinuierlichen Dialog zwischen den G7-Staaten und den Kommunen ein, die von nationalen Verbänden vertreten und von internationalen Städtenetzwerken unterstützt werden.
Die Städte gehören mit an den Tisch
Wir brauchen einen neuen Dialog und eine klare langfristige Vision für Städte auf EU-Ebene, die unsere Rolle bei der Gestaltung eines grünen und gerechten Europas anerkennt und Partnerschaften in der ganzen Welt schmiedet. Diese Vision sollte gemeinsam mit den Städten entwickelt werden, um allen EU-Initiativen, die Städte und städtische Entwicklungen betreffen, einen Rahmen und eine Richtung zu geben.
Die Städte gehören mit an den Tisch. Warum nicht ein jährliches Gipfeltreffen einrichten von EU-Bürgermeisterinnen und -Bürgermeistern und den Spitzen lokaler Exekutivorgane, allen EU-Kommissarinnen und -Kommissaren sowie nationalen Ministerinnen und Ministern, die sich mit städtischen Herausforderungen befassen? Warum nicht dem Beispiel der USA folgen, die einen Sonderbeauftragten für Städtediplomatie ernannt haben? Warum nicht einen Vizepräsidenten oder eine Vizepräsidentin in der Europäischen Kommission mit dem Mandat, das Engagement, die Initiativen und die EU-Politik für Städte zu bündeln?
Eine bessere Politik für das Wohlergehen aller
Der wachsende Einfluss und das Engagement der Städte sollten sich in der Arbeit der EU-Kommission und des Europäischen Parlaments in der kommenden Legislatur widerspiegeln. In turbulenten Zeiten können wir so eine bessere Politik für das Wohlergehen aller Menschen in unseren lokalen und globalen Gemeinschaften sicherstellen.
Die Autoren
Alle Autoren besetzen führende Posten in ihren jeweiligen nationalen Städteverbänden. Aus diesen Perspektiven und in Zusammenarbeit mit dem europäischen Städtenetzwerk Eurocities haben sie den Gastbeitrag verfasst.
Jeanne Barseghian ist Bürgermeisterin von Straßburg und Ko-Präsidentin des Ausschusses für europäische Angelegenheiten von France urbaine.
Bev Craig ist Vorsitzende des Stadtrats von Manchester und Vizevorsitzende von Core Cities UK.
Antonio Decaro ist Bürgermeister von Bari und Präsident der Associazione Nazionale Comuni Italiani.
Burkhard Jung ist Oberbürgermeister von Leipzig, Vizepräsident des Deutschen Städtetags und Präsident von Eurocities.
Peter Kurz ist Oberbürgermeister von Mannheim und Mitglied im Präsidium des Deutschen Städtetags.
Dario Nardella ist Bürgermeister von Florenz, Vorsitzender des Ausschusses für Ballungsräume der Associazione Nazionale Comuni Italiani und ehemaliger Präsident von Eurocities.
Marvin Rees ist Bürgermeister von Bristol und Vorsitzender von Core Cities UK.
Johanna Rolland ist Bürgermeisterin von Nantes und Präsidentin von France urbaine.
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.

