Im Anschluss an das Pilotprojekt „Mehrweg Modell Stadt“ zum Aufbau eines regionalen Mehrwegsystems für Getränkebecher und Geschirre zieht die hessische Landeshauptstadt Wiesbaden ein positives Resümee. Die Stadt möchte ihre diesbezüglichen Anstrengungen weiter vorantreiben und prüft, ein solches Mehrwegsystem vor Ort zu etablieren. Damit könnte sie in Sachen Kreislaufwirtschaft im kommunalen Kontext eine Vorreiterrolle einnehmen. Allerdings: Die im Sinne des Mehrwegsystems positiven Ergebnisse des Modellprojekts sind nur begrenzt aussagekräftig und somit risikobehaftet, denn der Aktionszeitraum war mit wenigen Wochen vergleichsweise kurz und die Durchdringung der Stadtgesellschaft entsprechend gering.
Wiesbaden testet regionales Mehrwegsystem
Das Pilotprojekt „Mehrweg Modell Stadt“ zielte darauf ab, das Aufkommen von Verpackungsmüll in der Stadt zu reduzieren. Angesichts der seit 1. Januar 2023 geltenden Mehrwegangebotspflicht wollte es außerdem den örtlichen Gastronomen die Gelegenheit geben, sich in ein effizientes, regionales Rücknahmesystem einzubringen. Um ein solches System zu erproben, taten sich im März elf Betriebe wie Bäckereien und Cafes mit über 85 Ausgabestellen in der Region zusammen.
Anstelle von Einweggeschirr gaben sie spezielle Aktionsbecher aus. Neben der Rückgabe in den jeweiligen Filialen waren im Stadtgebiet außerdem eigene „Mehrwegrücknahmesäulen“ aufgestellt. Das Pilotprojekt umfasste den gesamten Kreislauf der Aktionsbecher: von der Ausgabe an die Kunden über die Rücknahme beziehungsweise die Leerung der Rücknahmesäulen bis hin zur Säuberung im Spülwerk und dem Rücklauf in die Betriebe. An dem Projekt beteiligt waren die benachbarten Städte Wiesbaden und Mainz sowie das rheinland-pfälzische Klimaschutz- und das hessische Umweltministerium.
Mehrwegquote ein Erfolgskriterium
Insgesamt wurden an die teilnehmenden Betriebe 3.000 Aktionsbecher ausgegeben. Davon gingen rund 1.500 über die Ladentheke an die Konsumenten. Etwa 1.000 durchliefen im Aktionszeitraum den kompletten Kreislauf mit Rückgabe und Reinigung bis hin zum Wiedereinsatz. Der Testversuch geht mit einer deutlichen Steigerung, nämlich einer Verzehnfachung der Mehrwegquote einher. Zum Vergleich: Im gesamten Jahr 2023 gaben die Betriebe nur eine niedrige zweistellige Zahl an Mehrwegbechern aus. Dies bedeutete eine Mehrwegquote von 0,2 Prozent. Zwar ist die Mehrwegquote im Aktionszeitraum deutlich auf rund zwei Prozent gestiegen. Dennoch bewegt sie sich damit nach wie vor auf niedrigem Niveau.
Dass ein regionales Mehrwegsystem funktioniere, habe der Pilotversuch gezeigt, erklärt der Wiesbadener Wirtschaftsreferent Jan Stebler auf telefonische Nachfrage von #stadtvonmorgen. Dabei sei auch die regionale Begrenzung des Pilotversuchs nicht abträglich gewesen. Es habe sich erwiesen, dass die Aktionsbecher vorwiegend im Umfeld der Betriebe und in der Region kursierten. Dies führe zu der Erkenntnis, dass eine Kommune durchaus gezielt und regional Einfluss auf das Verhalten der Konsumenten beziehungsweise auf das Aufkommen von Einweggeschirr durch den Aufbau eines Rücknahmesystems nehmen könne. Gleichwohl müsse für den Aufbau eines Mehrwegsystems wie im Pilotversuch eine kritische Größe erfüllt sein, so Stebler. Schätzungsweise brauche es für die wirtschaftliche Tragfähigkeit eines solchen Systems eine Mehrwegquote von 30 bis 50 Prozent.
Informationsarbeit zur Förderung des Mehrweggedankens
Die Frage des Erfolgs eines Mehrwegsystems sei auch eine Frage der Bewusstseinsbildung. Zum einen habe sich gezeigt, dass an Ausgabestellen, an denen ausdrücklich auf die Mehrwegoption hingewiesen wurde, die Resonanz darauf deutlich größer war als dort, wo in geringerem Umfang über das modellhafte Mehrwegangebot informiert wurde, erklärt Stebler. Zum anderen sei hinsichtlich des Umstiegs auf Mehrweg ein Henne-Ei-Problem erkennbar: Oft gäben Betriebe an, auf Mehrweg umsteigen zu wollen, sofern die Kundennachfrage danach steige; und die Konsumenten gäben an, Mehrweglösungen nutzen zu wollen, sofern sie angeboten würden. Aus Sicht der Kommune, die Mehrweglösungen im Sinne der Abfallvermeidung forciere, müsse also eine entsprechende Informationsarbeit Teil ihrer Strategie sein.
Eine weitere Erkenntnis aus dem Pilotprojekt: Für die Umweltwirkung ist nicht nur der Einsatz von Mehrweggeschirr entscheidend, sondern der gesamte Kreislauf. Dazu gehören das Nutzen der vorhandenen Lieferlogistik bei der Sammlung des Geschirrs und dessen Transport zum Spülwerk sowie eine zentrale und damit ressourceneffiziente Säuberung. Letzteres trägt laut Stebler nicht nur zum Klimaschutz, sondern im Sinne der teilnehmenden Betriebe auch zur Wirtschaftlichkeit des Systems bei.
Mehrwegsystem statt Einweg: Wiesbaden wägt Optionen ab
Die Stadt Wiesbaden evaluiert nun, wie sie mit den Ergebnissen ihres Feldversuchs umgeht. Ziel ist nach wie vor, das Aufkommen von Einweg- und Wegwerfgeschirr zu reduzieren. Unter den Optionen, die die Kommune abwägt, um den Einsatz von Mehrweglösungen und gegebenenfalls den Aufbau eines regionalen Rücknahmesystems voranzubringen, ist das Setzen entsprechender Anreise. Dafür könnte die Einführung einer kommunalen Verpackungsteuer, wie es die Stadt Tübingen vormacht, eine Variante sein.
Für den Aufbau eines Mehrwegsystems steht auch die Idee, die betroffenen Betriebe zu einer freiwilligen Selbstverpflichtung zu animieren, im Raum. Deren Umsetzbarkeit ist in Prüfung. Darüber hinaus will die Kommune bewusstseinsbildend wirken und gezielt Öffentlichkeitsarbeit für den Einsatz von Mehrweglösungen betreiben.
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.