„Auto ja oder nein?“

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Marburg lässt die Bürger über die Verkehrswende abstimmen. Dies hat die Stadtverordnetenversammlung beschlossen. Nachdem die Stadt im vergangenen Jahr das Mobilitäts- und Verkehrskonzept MoVe 35 aufgelegt hatte, entbrannte in der Stadtgesellschaft ein hochemotionaler Streit darüber. Eine Initiative reichte ein Bürgerbegehren ein, das jedoch scheiterte. Gleichwohl reagiert das Lokalparlament auf die Proteste und hat einen Bürgerentscheid am 9. Juni anberaumt. Er dreht sich um die Frage, ob in Marburg der Pkw-Verkehr halbiert werden soll. Über die Idee von MoVe 35, die strategische Mobilitätsplanung, umstrittene Einzelmaßnahmen und den demokratischen Diskurs um die Verkehrswende spricht Oberbürgermeister Thomas Spies mit #stadtvonmorgen.

Verkehrskonzept zur systematischen Mobilitätsplanung

#stadtvonmorgen: Herr Dr. Spies, in Marburg wird um das Mobilitäts- und Verkehrskonzept MoVe 35 gerungen. Was will es, was ist seine Intention, worum geht‘s?

Thomas Spies: Die zentrale Idee von MoVe 35 ist, die Mobilitätsplanung für die Universitätsstadt Marburg systematisch anzugehen. Kommunen neigen dazu – und auch in Marburg was das bislang der Fall –, die Mobilität an Einzelprojekten zu diskutieren. Das kann leidenschaftlich vonstattengehen, und oft treffen widerstreitende Interessen aufeinander. MoVe 35 zielt dagegen darauf ab, eine Gesamtstrategie für die Stadtmobilität zu entwickeln. Dabei greift es die besonderen Bedingungen der Stadt auf: Aufgrund der topografischen Lage im Tal zwischen zwei Bergen führen die Hauptachsen durch die City. Zudem sind nicht nur die innerstädtischen Verkehre zu betrachten, sondern auch die Routen von Pendlern. Täglich kommen rund 30.000 Einpendler – jenseits der Schulkinder – ins Oberzentrum. MoVe 35 will dazu beitragen, die Mobilität in Gänze und nicht fokussiert auf ein bestimmtes Verkehrsmittel zu organisieren. Dabei ist ein wichtiger Ansatz, die Wahlfreiheit möglichst zu erhöhen, also das Mobilitätsangebot mit ÖPNV, Fahrrad- und Fußgängerwegen so auszugestalten, dass die Menschen tatsächlich eine realistische Wahl haben, wie sie sich fortbewegen möchten. Darüber hinaus geht es selbstverständlich um Aspekte wie Klimaschutz und -anpassung, Sicherheit, Erreichbarkeit und Stadtgestaltung. Das alles bindet MoVe 35 zusammen.

Thomas Spies (Quelle: Stadt Marburg/Patricia Grähling)
Thomas Spies (Quelle: Stadt Marburg/Patricia Grähling)

Verkehrskonzept: unstrittiger Tenor, umstrittene Einzelmaßnahmen

#stadtvonmorgen: Über MoVe 35 entbrannte allerdings eine hitzige Debatte. Worüber wird gestritten, welches sind die Kernthemen der Auseinandersetzung?

Thomas Spies: Ein Großteil der konzeptionellen Vorschläge und Maßnahmen ist völlig unstrittig. Nehmen wir die Taktverdichtung im ÖPNV, den Bau von Radwegen – sofern er nicht zu Verteilungskämpfen um Straßenraum führt – oder städtebauliche Maßnahmen zur Erhöhung der Verkehrssicherheit: Gegen bessere und sichere Verkehre hat niemand etwas. Streit kam vor allem mit Blick aufs Auto auf. Als einen Parameter für die Erfolgsmessung der Maßnahmen nimmt MoVe 35 den sogenannten Modal Split, also die Anteile verschiedener Verkehrsträger am Gesamtverkehr an. Demnach ist das Ziel formuliert, den Kfz-Verkehr um 25 bis 50 Prozent zu reduzieren. In der öffentlichen Debatte ging es daraufhin plötzlich nicht mehr darum, Angebote des Umweltverbunds zu verbessern, sondern es entstand der Eindruck, als solle das Autofahren verboten oder eingeschränkt werden. Das ist natürlich völlig abwegig: Weder will die Kommune Autofahren verbieten noch kann sie das. Doch selbst verkehrslenkende Maßnahmen, die zu einer Verlagerung, nicht aber zur Verhinderung des Autoverkehrs führen sollen, waren plötzlich als Autoverbote verkannt.

Topografische Besonderheit: Die City Marburgs liegt in einer Talsohle. Das hat Auswirkungen auf den Stadtverkehr. (Quelle: Stadt Marburg/Patricia Grähling)
Topografische Besonderheit: Die City Marburgs liegt in einer Talsohle. Das wirkt auf den Stadtverkehr. (Quelle: Stadt Marburg/Patricia Grähling)

„Haarsträubende Unterstellungen und Hassbotschaften“

#stadtvonmorgen: Sie haben die Heftigkeit des Diskurses um das Verkehrskonzept kritisiert. Wie sehr ist er denn abgeglitten? Und warum ist das aus Ihrer Sicht der Fall?

Thomas Spies: Wir haben die Bürger von Beginn an MoVe 35 beteiligt. 3.762 nahmen an einer Onlinebeteiligung teil. Zudem kam eine vierstellige Zahl an Bürgern zu Infoveranstaltungen, wenn die Coronakrise die Partizipation auch erschwerte. Doch Beteiligungsansätze haben drei grundlegende Probleme: Erstens kann zwischen Beteiligung und Umsetzung Zeit verstreichen, sodass bei manchem die Erinnerung verblasst. Zweitens interessieren sich oft weniger Bürger für die konzeptionelle Arbeit und drittens werden dabei die Argumente vor allem auf einer abstrakten Ebene ausgetauscht. Zu dem Zeitpunkt, als konkrete Ergebnisse vorlagen, gab es dann ein Momentum der Erregung. Der Streit über die Frage „Auto ja oder nein?“ ist tatsächlich entglitten. Es wurde unheimlich emotional. In den sozialen Medien kursierten haarsträubende Unterstellungen und Hassbotschaften. Es kam zu einer Polarisierung zwischen den Verkehrsformen im Straßenraum. Radfahrer berichteten, Autofahrer hätten es regelrecht auf sie abgesehen. Die fachliche Expertise der Verwaltung und der Gutachter wurde in Frage gestellt. Städtische Angestellte – sogar Erzieher in Kitas – bekamen harsche Kritik am Mobilitätskonzept ab. Der Ausgangspunkt war, dass Leute das Gefühl hatten, in ihrer Mobilität beschnitten zu werden.

Bürgerentscheid über Verkehrskonzept „folgerichtig“

#stadtvonmorgen: Die Stadtverordnetenversammlung hat entschieden, über das Verkehrskonzept MoVe 35 in einem Bürgerentscheid am 9. Juni abstimmen zu lassen. Hat dies die Schärfe aus der Debatte genommen?

Thomas Spies: Die Diskussion flammte vor den Sommerferien auf und ist dann eskaliert. Im September, Oktober beruhigte sie sich wieder. Das hängt wohl auch mit einer Informationskampagne zusammen. Zwischenzeitlich gab es sogar ein Bürgerbegehren, das allerdings aus formalen Gründen nicht zulässig war. Umso mehr wurde die Verwaltung angegangen. Ihr wurde unterstellt, juristische Tricksereien anzuwenden. Ein solches Klima weckt – wenn auch unbegründete – Zweifel an den demokratischen Strukturen und der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns. Das stört den Stadtfrieden. Insofern war es folgerichtig, den Bürgerentscheid zu veranlassen. Die Hitzigkeit der Debatte ist nun weg, sie hat sich beruhigt, und es gibt keine Angriffe auf die Verwaltung mehr. Der Vorwurf, die Bürger dürften nicht mitreden, ist passé. Die Frage des Bürgerentscheids lautet: „Sind Sie dafür, dass das im Rahmen von MoVe35 beschlossene Ziel einer Halbierung des Pkw-Verkehrs zugunsten anderer Verkehrsmittelnutzungen weiterhin verfolgt wird?“

#stadtvonmorgen: Was erhoffen sie sich vom 9. Juni?

Thomas Spies: Ich kommentiere die Fragestellung nicht. Es ist nun an den Bürgern, zu entscheiden. Ich wünsche mir, dass mit Blick auf den 9. Juni eine Auseinandersetzung mit MoVe 35 und seinen komplexen Inhalten stattfindet. Ich hoffe auf eine Sachdebatte anstelle hochemotionaler Reaktionen. Und unabhängig vom Ausgang des Bürgerentscheids auf die breite Erkenntnis, dass der Ansatz eines urbanen Mobilitätskonzepts sinnvoll ist.

Bürgerbeteiligung zur Stärkung der Demokratie

#stadtvonmorgen: Glauben Sie, dass Beteiligungsprozesse wie der in Marburg angesichts des aktuellen Diskurses um die Stabilität des demokratischen Systems dazu führen, die Stärken der Demokratie – nämlich, dass sich Bürger aktiv einbringen können – hervorzuheben? Oder kann die ihnen zugrundeliegenden Unzufriedenheit so groß sein, dass ihr demokratischer Wert überhaupt nicht gesehen wird?

Thomas Spies: Ich glaube, das hängt vom Prozess ab. Wird es zeitlich und sachlich gelingen, einen strukturierten und rationalen Diskurs zu führen, der nicht auf der Ebene persönlicher Betroffenheiten und Emotionen verhaftet ist? Besteht auf der einen Seite ein fundiertes Informationsangebot und auf der anderen Seite die Bereitschaft, dieses anzunehmen und sich damit auseinanderzusetzen? Beides sind Voraussetzungen, um das Vertrauen in die Rationalität des Verwaltungshandelns zu stärken. Und am Ende des Prozesses muss gelten: Wenn die Bürger entschieden haben, ist entschieden. Die Akzeptanz der kollektiven Entscheidung ist grundlegend – auch wenn der einzelne vom Ergebnis enttäuscht sein mag. Aber wenn Einigkeit über das demokratische Prinzip besteht, dann funktioniert der Prozess als Stärkung der Demokratie. Ich empfinde Bürgerbeteiligung als elementar für die Kommunalpolitik. Nicht umsonst habe ich in der Verwaltung die Stabstelle Bürgerbeteiligung verankert, die permanent an der Gestaltung diskursiver Prozesse arbeitet und auch dazu beigetragen hat, die Debatte um MoVe 35 auf eine Ebene des rationalen Diskurses zu heben.

#stadtvonmorgen: Nun soll über die Streitfrage, ob die Halbierung des Pkw-Verkehrs stadtstrategisches Ziel ist, abgestimmt werden. Doch wie relevant ist diese Frage überhaupt? Angenommen, die Abstimmung kommt zu dem Ergebnis, dass die Halbierung des Pkw-Verkehrs nicht stadtstrategisches Ziel sein soll, aber Einzelmaßnahmen wie der ÖPNV-Ausbau oder die Förderung des Radverkehrs führen in Summe faktisch dazu, dass sich der Pkw-Verkehr in Marburg dennoch halbiert – dann war die ganze Aufregung umsonst, oder?

Thomas Spies: Das kann passieren. Wie gesagt: Niemand hat etwas dagegen, den Verkehr nachhaltiger auszurichten. In der Debatte geht es aus meiner Sicht vorwiegend um die Befürchtung, in der eigenen Lebensorganisation eingeschränkt zu werden. Dass etwa ÖPNV, Rad- und Fußwege ausgebaut werden, ist allgemeiner Konsens. Wenn dies zu größerer Wahlfreiheit und damit zu einem freiwilligen Umschwung vom Kfz-Verkehr auf den Umweltverbund führt, gewinnen alle.

a.erb@stadtvonmorgen.de

Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.