„Unser föderales System steckt in einer tiefen Krise“

Jutta Steinruck zieht sich aus der Kommunalpolitik zurück. Mit einem aufrüttelnden Statement, das der Verfasstheit des Landes ein alarmierendes Zeugnis ausstellt, kündigte die Oberbürgermeisterin von Ludwigshafen vor wenigen Tagen an, bei der nächsten Wahl 2025 nicht mehr zu kandidieren. Was sie zu diesem Schritt bewogen hat, wo sie die für einen Lokalpolitiker zermürbenden Schwächen des föderalen Systems sieht und warum Ludwigshafen hinsichtlich der Stadtfinanzen eine Klage gegen das Land Rheinland-Pfalz vorbereitet, erklärt sie gegenüber #stadtvonmorgen. Jutta Steinruck: „Ich will diese Stadt nicht kaputtsparen“ #stadtvonmorgen: Frau Steinruck, wie zermürbend ist es, Oberbürgermeisterin zu sein? Jutta Steinruck: Das Amt der Oberbürgermeisterin habe ich immer als eine große Ehre und Privileg begriffen. Für die Zukunft unserer Stadt und das Leben der Menschen in Ludwigshafen anpacken zu dürfen, ist nach wie vor eine erfüllende Aufgabe und Verantwortung – auch wenn die Herausforderungen und Rahmenbedingungen in den letzten Jahren keineswegs einfacher geworden sind. Im Gegenteil: Die zunehmende Aufgabenlast, die wir Kommunen stemmen müssen und die finanziellen Engpässe, denen wir dabei ausgesetzt sind, machen es sehr schwer, allen Erwartungen vor Ort gerecht zu werden und die Probleme, die gelöst werden müssen, wirksam anzugehen. Mein Anspruch war und ist, zu gestalten. Aber die Möglichkeiten dazu werden durch finanzielle und bürokratische Zwänge immer weiter eingeschränkt. Das macht das Amt nicht immer ganz einfach. #stadtvonmorgen: Sie haben Ihren Rückzug bekanntgegeben. In einem ausführlichen Statement begründen Sie ihn insbesondere mit den hohen Reibungsverlusten an Energie und Gestaltungskraft zwischen Bund, Ländern und Kommunen – Stichwort Konnexitätsprinzip – und mit den immer größer werdenden finanziellen Zwängen, in denen Ihre Stadt steckt. Wie schlimm steht es um Ludwigshafen? Jutta Steinruck: Wie viele andere Städte steht Ludwigshafen vor enormen Herausforderungen. Die finanzielle Lage ist extrem angespannt, was es immer schwieriger macht, notwendige Investitionen in die Infrastruktur, Bildung und Soziales zu tätigen. Die Mittel, die wir zur Verfügung haben, reichen bei Weitem nicht aus, um die Anforderungen an eine moderne, zeitgemäße und zukunftsorientierte Stadtverwaltung zu erfüllen. Ich habe immer betont, dass ich die Stadt nicht kaputtsparen will – doch die derzeitige Finanzpolitik zwingt uns genau dazu. Beim Thema Konnexitätsprinzip ist es leider so, dass ich nicht das Gefühl habe, dass man zumindest bei neuen Gesetzen das System von „wer bestellt, der bezahlt“ umsetzt, was wir Kommunen seit Jahren fordern. Ein Beispiel ist das Gesetz zur Ganztagsbetreuung, die für die Kommunen weder auskömmlich finanziert ist, noch personell und räumlich umsetzbar sein wird. Da werden Ansprüche geschaffen und bei den Eltern Hoffnungen geweckt, die wir vor Ort nicht erfüllen können. Das ist nur eines von vielen Beispielen, die nicht Ludwigshafen alleine treffen. Gleichzeitig ist auch klar: Selbst wenn wir in Ludwigshafen alle sogenannten freiwilligen Leistungen streichen würden, könnten wir auf absehbare Zeit unseren Haushalt nicht ausgleichen. „Wir benötigen eine tiefgreifendere Reform“ #stadtvonmorgen: Wie sieht der Ludwigshafener Haushalt denn in konkreten Zahlen aus? Jutta Steinruck: Im Ergebnishaushalt 2024 verzeichnen wir eine Verschlechterung von rund 56 Millionen Euro. Somit erhöht sich der Jahresfehlbetrag mit Abschreibungen von bisher rund 25 Millionen Euro auf neu 81 Millionen Euro. Ende 2024 beträgt der Gesamtbetrag der investiven und konsumtiven Verschuldung der Stadt voraussichtlich 1,151 Milliarden Euro. Die wesentlichen Ursachen für die Erhöhung des Defizites sind die enorme Reduzierung der Gewerbesteuererträge sowie Gemeindeanteile an Steuern und ein erhöhter Mehraufwand für die Errichtung von Ausweichquartieren von mittelfristigen Unterkünften in Form von Leichtbauhallen oder Containeranlagen. #stadtvonmogen: Dabei gibt es, was die kommunale Finanzausstattung angeht, in Rheinland-Pfalz zwei Lösungsansätze: erstens hat die Landesregierung eine Altschuldenlösung angelegt, zweitens den kommunalen Finanzausgleich neu gefasst. Was sagen Sie: Beides gefloppt? Jutta Steinruck: Die Altschuldenlösung und der neue kommunale Finanzausgleich sind sicherlich Schritte in die richtige Richtung. Allerdings reichen sie längst nicht aus, um die drängenden Probleme zu lösen. Viele Kommunen, darunter auch Ludwigshafen, haben weiterhin mit massiven finanziellen Engpässen zu kämpfen. Die Altschuldenfrage, zu deren Lösung ja auch der Bund beitragen wollte, ist nur teilweise geklärt. Wir benötigen eine tiefgreifendere Reform, die wirklich nachhaltig ist und den Kommunen langfristig hilft. Letztlich müssten Bund, Land und Kommunen das Thema Finanzen neu verhandeln, um zu einem fairen und zeitgemäßen Ausgleich zu kommen. Wir müssen außerdem wegkommen von einer Aufteilung in freiwillige und Pflichtaufgaben, die inhaltlich nur noch schwer vermittelbar ist: Sind Sportstätten angesichts der Bewegungsarmut von Kindern und Jugendlichen wirklich eine freiwillige Leistung des Staates? Sind Bibliotheken verzichtbar angesichts der Probleme unseres Bildungssystems? Kann man kulturelle Angebote komplett streichen, die doch viel mehr sind als vermeintliche Ergänzungen zu Unterhaltungsprogrammen in Streamingdiensten? Niemand, der die Werte unserer demokratischen Gesellschaft erhalten will, wird eine dieser Fragen mit „ja“ beantworten. Wir müssen darüber hinaus hinkommen zu einem Ausgleich, der auch die großen Transformationsprozesse in unserer Gesellschaft und deren Folgen aufgreift. Transformation: Es fehlt an Unterstützung #stadtvonmorgen: In Rheinland-Pfalz wurde der kommunale Finanzausgleich zuletzt nach einer Klage der Stadt Pirmasens und des Landkreises Kaiserslautern gekippt und neugefasst. Die Stadt Ludwigshafen strengt nun abermals eine Klage an. Worum geht’s? Jutta Steinruck: Ich bin gewillt, die Klage auf den Weg zu bringen. Und nach meiner Einschätzung geht der Stadtrat diesen Weg mit. Derzeit analysieren wir mit Anwälten die Situation, loten Optionen aus und prüfen die Erfolgsaussichten eines solchen Vorstoßes. Im Grunde geht es um stetige finanzielle Unterdeckung bei der Erledigung von Aufgaben, die Bund und Land an die Stadt übertragen. Im Fokus stehen die Bereiche Jugend und Soziales. Anhand von Daten bereiten wir genau die Ursachen, die die Schuldenspirale bedingen, auf und zeigen damit sehr detailliert, dass die Stadt deutlich zu wenig Geld bekommt von denen, die ihr diese Aufgaben auferlegen. Dabei geht es uns auch um die Zukunft hinsichtlich der Übertragung neuer Aufgaben. Wir prüfen alle juristischen Möglichkeiten, die den kommunalen Finanzausgleich genauso angreifen können wie die Erledigung der uns übertragenen und nicht mit entsprechenden Mitteln ausgestatteten Aufgaben. #stadtvonmorgen: Neben der Finanzausstattung weisen Sie auf die Transformationsprozesse hin, die unsere Gesellschaft durchläuft. Mit der BASF beheimatet Ludwigshafen ein Flaggschiff der deutschen Industrie. Was sagt es über den Wirtschaftsstandort Deutschland aus, wenn die Oberbürgermeisterin dieser Stadt am Transformationsmanagement des Bundes kein gutes Haar lässt? Jutta Steinruck: Ludwigshafen und die BASF stehen stellvertretend für die Herausforderungen, die Deutschland insgesamt bei der Energiewende zu bewältigen hat. Wir befinden uns mitten in einer Transformation, die nicht nur wirtschaftliche Strukturen verändert, sondern auch enorme soziale und ökologische Auswirkungen hat. Leider fehlt es an einer klaren und nachhaltigen Strategie von Bund und Land, die Städte wie Ludwigshafen bei diesem Wandel angemessen unterstützt. Wenn eine Stadt wie Ludwigshafen, die so eng mit der Industrie verbunden ist, nicht die nötige Unterstützung erhält, dann sagt das viel über den Zustand unseres Wirtschaftsstandorts aus. Jutta Steinruck: „Ein alarmierender Weckruf“ #stadtvonmorgen: Sie werfen auch das Beispiel Gräfenauschule auf. Was sagen Sie mit diesem lokalen Beispiel? Jutta Steinruck: Das Beispiel der Gräfenauschule in Ludwigshafen verdeutlicht die Probleme unseres Bildungssystems, insbesondere in sozial herausgeforderten Stadtteilen. Dort haben fast alle Kinder einen Migrationshintergrund, viele kommen ohne ausreichende Deutschkenntnisse in die Schule. Im letzten Jahr mussten 39 Erstklässler die erste Klasse wiederholen, dieses Jahr sind es erneut 37. Die Sprachbarrieren hindern die Kinder daran, Lesen, Schreiben oder Rechnen zu lernen. Die Schule hat Unterstützung vom Land erhalten, aber diese war auf nur sechs Wochen begrenzt. Solche Maßnahmen sind zwar ein Schritt in die richtige Richtung, aber sie reichen nicht aus. Das Beispiel Gräfenauschule steht stellvertretend für die Überforderung der Kommunen und Bildungseinrichtungen. Es zeigt, dass dringend langfristige und gut finanzierte Lösungen nötig sind, um Kindern unabhängig von ihrem Hintergrund eine faire Chance zu geben. #stadtvonmorgen: „Wenn ich heute auf eine erneute Kandidatur verzichte, dann möchte ich hinter diesen Hilferuf noch ein dickes Ausrufezeichen setzen“, sagen Sie in ihrem Statement. Glauben Sie, die „große Politik“ nimmt derartige Ausrufezeichen wahr? Zuletzt schrieben die Oberbürgermeister Boris Palmer (Tübingen), Matthias Klopfer (Esslingen) und Richard Arnold (Schwäbisch Gmünd) gemeinsam einen Brandbrief an Kanzler Olaf Scholz und drängten auf Entbürokratisierung. Aus dem Kanzleramt kam keine Antwort. Welche Wirkung, glauben Sie, entfaltet Ihr Ausrufezeichen? Jutta Steinruck: Ich hoffe sehr, dass diese Hilferufe endlich wahrgenommen werden. Wir haben es in den letzten Jahren oft genug versucht, auf die Probleme hinzuweisen, sei es durch die kommunalen Spitzenverbände oder durch direkte Gespräche mit Landes- und Bundesvertretern. Leider habe ich oft das Gefühl, dass die Anliegen der Kommunen nicht die Priorität genießen, die sie haben sollten. Wenn nun sogar Oberbürgermeister ihren Rückzug erklären, weil sie unter diesen Bedingungen nicht mehr weiterarbeiten können, dann sollte das doch ein alarmierender Weckruf sein. „Alle wissen, dass Kommunen zu sehr belastet sind“ #stadtvonmorgen: Was sagt das über die Verfasstheit unseres Staates aus? Jutta Steinruck: Es zeigt, dass unser föderales System in einer tiefen Krise steckt. Die Aufgaben und Anforderungen, die auf die Kommunen zukommen, sind immens, doch gleichzeitig werden sie oft allein gelassen. Wenn erfahrene Kommunalpolitiker wie ich sich gezwungen sehen, nicht erneut zu kandidieren, dann ist das ein deutliches Zeichen dafür, dass der Handlungsspielraum der Kommunen so stark eingeschränkt ist, dass ein sinnvolles und nachhaltiges Regieren kaum noch möglich ist. Mir geht es um Ehrlichkeit: Alle wissen, dass die Kommunen zu sehr belastet sind, keine Handlungsfähigkeit mehr haben und zum Teil bei der Gestaltung ihres Gemeinwesens auf Fördermittel angewiesen sind. Jeder kennt die Probleme. Dennoch werden immer wieder neue Gesetze gemacht, die die Kommunen weiter belasten. #stadtvonmorgen: Sie sind im vergangenen Jahr auch aus der SPD ausgetreten. Wieso, und wie steht das zur jetzigen Entscheidung? Jutta Steinruck: Mein Austritt aus der SPD war eine sehr persönliche Entscheidung, die jedoch im Kontext meiner politischen Erfahrungen der letzten Jahre steht. Ich habe immer für die Interessen der Stadt Ludwigshafen gekämpft, doch ich hatte zunehmend das Gefühl, dass meine Partei nicht die notwendigen Antworten auf die drängenden kommunalen Probleme bietet. #stadtvonmorgen: Sie sprechen in Ihrer Erklärung auch die zunehmende Belastung durch Hass und Hetze für Amtsträger an. Ist der Rückzug diesbezüglich nicht ein fatales Signal: Überlassen Sie so nicht das Feld antidemokratischen Kräften? Jutta Steinruck: Es ist eine schwierige Balance. Natürlich möchte ich nicht den Eindruck erwecken, dass ich vor diesen antidemokratischen Kräften kapituliere. Aber es ist auch wichtig, auf die zunehmende Bedrohung aufmerksam zu machen, der viele Amtsträger ausgesetzt sind. Hass und Hetze dürfen keinen Platz in unserer Gesellschaft haben, und wir müssen gemeinsam dagegen ankämpfen. Meine Nicht-Kandidatur ist kein Zeichen der Schwäche, sondern ein Zeichen dafür, dass wir dringend etwas an den Rahmenbedingungen, unter denen Politik gemacht wird, ändern müssen. „Konnexitätsprinzip muss konsequent eingehalten werden“ #stadtvonmorgen: Was geben Sie Ihrem Nachfolger mit? Und würden Sie junge Menschen motivieren, sich für ein politisches Amt zu interessieren? Jutta Steinruck: Meinem Nachfolger möchte ich mitgeben, dass er oder sie sich nicht entmutigen lassen sollte. Trotz aller Herausforderungen ist es ein unglaublich erfüllendes Amt, dem man seine ganze Leidenschaft, Kraft und Energie, sein ganzes Herzblut widmet. Ich würde junge Menschen auf jeden Fall ermutigen, sich politisch – und in diesen Zeiten muss man hinzufügen: demokratisch – zu engagieren. Es ist wichtig, dass frische Ideen und neue Perspektiven in die Politik kommen, und gerade junge Menschen können einen entscheidenden Beitrag leisten. #stadtvonmorgen: Was muss aus Ihrer Sicht denn unbedingt besser werden, dass sich die Perspektiven für kommunale Verantwortungsträger wieder aufhellen? Jutta Steinruck: Es muss ein Umdenken in der Politik stattfinden, was die finanzielle und strukturelle Unterstützung der Kommunen betrifft. Die Kommunen sind das Rückgrat unseres Staates, und sie müssen die Mittel und den Spielraum erhalten, um ihre Aufgaben effektiv zu erfüllen. Bürokratische Hürden müssen abgebaut und das Konnexitätsprinzip muss konsequent eingehalten werden. Nur so können wir sicherstellen, dass Kommunalpolitiker wieder echte Gestaltungsmöglichkeiten haben und die Lebensqualität in unseren Städten verbessert wird.

„Unser föderales System steckt in einer tiefen Krise“

Jutta Steinruck: „Ich will diese Stadt nicht kaputtsparen“

Weitere Artikel

Studie: Staat muss ÖPNV-Finanzierung neu aufstellen

„Die Nicht-Investition bleibt am Ende die teuerste Variante“

Aktuelle Ausgabe

Digitalisierung als Lebenselixier [05|2025]

Weitere Inhalte zum Thema

Die Deutschland-Bürokratie

Keine Antwort vom Kanzler

Hilferuf mit dickem Ausrufezeichen

News

E-Magazin

Events

Research

Ihr Nutzerkonto

Über uns

Partner

Mediadaten

FAQ

Kontakt

„Unser föderales System steckt in einer tiefen Krise“

Jutta Steinruck: „Ich will diese Stadt nicht kaputtsparen“

Weitere Inhalte zum Thema

Ihr Feedback an #stadtvonmorgen