„Es ist in unserem Land etwas ins Rutschen gekommen“

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Hunderttausende gingen am Wochenende auf die Straße: Die deutschen Städte sind Zentren von Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und gegen die rechtspopulistische Partei AfD. Der Anlass des Protests sind Berichte des Recherchenetzwerks Correctiv über ein Treffen zwischen Rechtsextremen und unter anderem AfD-Funktionären sowie Mitgliedern der Werteunion. Bei dem Treffen in Potsdam soll über Remigration, die massenhafte Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund, gesprochen worden sein. Darüber zeigen sich die Städte „schockiert“. In der sogenannten Trierer Erklärung warnte der Deutsche Städtetag am Donnerstag vor einer Erosion der Demokratie. Was sagen Oberbürgermeister dazu? Wie ist die Lage in ihrer Stadt? Und was bedeutet die rechtsextreme Bedrohung für Ihre Stadtgesellschaft? Darüber spricht #stadtvonmorgen mit Mike Josef, dem Oberbürgermeister von Frankfurt am Main.

„Der Samstag hat gezeigt: Nicht mit uns“

#stadtvonmorgen: Herr Josef, rund 40.000 Menschen haben am Samstag in Frankfurt gegen rechtsextreme Strömungen und die AfD demonstriert. Sie waren dabei. Welches Zeichen möchten Sie setzen?

Mike Josef: Mich hat der Samstag sehr bewegt. Frankfurt hat gezeigt, dass wir aufeinander aufpassen und zusammenhalten. Das Zeichen ist, dass wir in Frankfurt keine Menschen vertreiben, wir heißen sie willkommen. Es ist in unserem Land etwas ins Rutschen gekommen, weil Extremisten meinen, die Unzufriedenheit und die Verunsicherung, die es bei vielen Menschen fraglos gibt, nutzen zu können, um gegen Minderheiten zu hetzen. Der Samstag hat gezeigt: Nicht mit uns, wir stehen zu unserer Demokratie und zu unserer Verfassung. Ich bin stolz auf Frankfurt.

#stadtvonmorgen: Bundesweit gibt es derzeit eine Bewegung, tausende Menschen gehen auf die Straße für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Doch wie nachhaltig ist dieses Engagement? Was muss nun daraus folgen?

Mike Josef: Zunächst einmal ist der Samstag ein Energieschub für unsere ganze Stadt und ein notwendiges Zeichen. Wir machen zusammen klar: Wir stehen gemeinsam ein für Demokratie und lassen uns nicht spalten. Wir Demokraten und Anständigen sind die große Mehrheit, und das zeigen wir jetzt auch. Zum Thema Rechtsstaat muss klar sein, dass die Justiz hart durchgreifen muss, wenn offen darüber gesprochen wird, deutsche Staatsbürger gegen ihren Willen mit Gewalt aus unserem Land zu deportieren. Das ist die Planung von gefährlichen, menschenverachtenden Straftaten, die auch mich erschaudern lassen. Dagegen muss vorgegangen werden, auf allen Ebenen.

„Die Lebensrealität der Bürger in den Mittelpunkt“

#stadtvonmorgen: Wie lässt sich der zunehmende Rechtsextremismus zurückdrängen?

Mike Josef: Es ist wichtig, dass die Politik die Lebensrealität der Bürger in den Mittelpunkt stellt, in ihren Entscheidungen verlässlich ist und das Vertrauen in die Demokratie festigt. Drei konkrete Punkte: Das Klimageld muss kommen, die deutsche Industrie gestärkt werden, und wir müssen in unsere soziale Infrastruktur, in Schulen, Kitas, Busse und Bahnen und generell in die Bildung investieren. Wir haben einen großen Investitions- und Bürokratiestau. Beides gilt es aufzulösen und Menschen ernst zu nehmen.

#stadtvonmorgen: Anlass der Demonstrationen ist ein bekanntgewordenes Treffen zwischen Rechtsextremen und unter anderem Funktionären der AfD, bei dem offen über die Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen wurde. Was bedeutet es für den sozialen Zusammenhalt in einer Stadtgesellschaft, wenn solches Gedankengut zirkuliert?

Mike Josef: Es geht darum, füreinander einzustehen und gegen Unrecht aktiv Widerstand zu leisten. Ich habe am Samstag gesagt, dass Stunde um Stunde und Tag für Tag die Grenzen des Denk- und Sagbaren Richtung Extremismus verschoben werden. Diese Debatte ist dafür ein Beispiel. Wenn geplant wird, deutsche Staatsbürger gewaltsam außer Landes zu schaffen, dann ist das die Planung eines Verbrechens. Die Zeit des Kleinredens, die Zeit des Beschönigens, die Zeit des Wegschauens ist vorbei. Die Fakten liegen auf dem Tisch und es Zeit sich zu entscheiden. Die Bedrohung ist ernst, und die Bedrohung ist real.

Rechtsextremismus: Was ist los in Deutschland?

#stadtvonmorgen: Was bedeutet der Rechtsextremismus für das Profil einer internationalen und prosperierenden Stadt wie Frankfurt?

Mike Josef: Mich haben in den letzten Tagen viele in Davos angesprochen und gefragt, was ist los in Deutschland. Wir alle müssen uns für unsere Demokratie einsetzen. Gegen Rassismus, gegen Antisemitismus und für Meinungsvielfalt. Dass in den letzten Tagen dafür so viele Menschen auf die Straße gegangen sind, war stark. Ein Mann hat mir bei der Kundgebung in Frankfurt erzählt, er wohnt seit 45 Jahren in der Stadt und hat so etwas noch nicht erlebt. Frankfurt ist liberal und weltoffen. Das ist unsere DNA, unser Lebenselixier und die Basis unseres wirtschaftlichen Erfolges. Wir sind entschlossen, gemeinsam für Demokratie und Menschenwürde einzustehen. Das ist unser Land, es ist unser Frankfurt, unser Leben, es ist die Zukunft unserer Kinder, um die es heute geht.

#stadtvonmorgen: Energiewende, Verkehrswende, Wärmewende – Stadtgesellschaften stehen vor tiefgreifenden Transformationsaufgaben, die durchaus auch mit spannungsgeladenen Debatten beispielsweise um Windkraft oder um die Aufteilung des öffentlichen Raums einhergehen. Wie steht dies in Zusammenhang mit der aktuellen Sorge um Rechtsextremismus: Wie sehr lähmt einerseits der existentielle Streit um unsere demokratische Ordnung wichtige Transformationsbestrebungen; und wie sehr kommen andererseits emotionale und kontroverse demokratische Debatten auf anderen Politikfeldern rechtsextremen Gruppierungen zugute?

Mike Josef: In einer Demokratie wird gestritten, das ist ihr Wesensmerkmal. Es ist ein Ringen der Ideen, und das ist auch gut so. Aber wo viele Menschen ein feines Gespür haben: Geht es gerecht zu? Werden alle Interessen berücksichtigt? Setzen sich kleine Lobbygruppen gegen den Willen der Mehrheit durch? Ich glaube, Menschen sind bereit, Dinge zu verändern. Aber es muss gerecht zugehen, und die Bürger wollen verstehen, warum und wofür. Wesentlich ist Akzeptanz und, dass wir die Menschen nicht überfordern.

Rechtsextremismus: Stolz auf die Reaktion der Stadtgesellschaft

#stadtvonmorgen: Erlauben Sie mir, Ihre persönliche Biografie anzusprechen. Sie haben syrische Wurzeln. Wie groß sind Ihre Sorgen, wenn Sie von derartigen rechtsextremen Treffen hören, wie fühlt sich das für Sie an?

Mike Josef: Viele Mitbürger in Frankfurt haben in irgendeiner Form eine Migrationsgeschichte. Viele fragen sich, ist das wirklich 2024? Ist wirklich 2024 das Jahr, in dem wir erfahren, dass sich rechtsradikale Politiker und finanzstarke Unternehmer treffen, um die Deportation von deutschen Staatsbürgern zu planen? Rassismus und Faschismus haben noch nie zu mehr Wohlstand geführt, sondern immer zum Elend und zur Verelendung aller. Zu sehen, wie viele Menschen am Samstag in die Frankfurter Innenstadt gekommen sind, um zu zeigen, wir sind mehr und wir stehen zusammen, das hat mich als Oberbürgermeister auch stolz gemacht.

Info

Wie schätzen Stadtlenker angesichts der Demonstrationen gegen Rechtsextremismus die Stimmung in ihrer Stadt und im Land ein? Dazu befragt #stadtvonmorgen drei Oberbürgermeister: Octavian Ursu (CDU; Görlitz), Belit Onay (Grüne; Hannover) und Mike Josef (SPD; Frankfurt am Main). Die drei stehen nicht nur parteiübergreifend für eine weltoffene Kommunalpolitik, sondern blicken auch alle auf eine eigene Migrationsgeschichte zurück. Das Interview mit Ursu ist hier zu finden, das Interview mit Onay ist hier zu finden.

a.erb@stadtvonmorgen.de

Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.