Vor welchen Transformationsaufgaben stehen die deutschen Städte? Was treibt sie um? Und was erwarten sie sich angesichts der anstehenden Neuwahlen von der Bundespolitik? Diese Fragen stellt #stadtvonmorgen zum Jahreswechsel 14 deutschen Stadtlenkern. An dieser Stelle antwortet Oberbürgermeister Dieter Krone aus Lingen. Die Antworten aller 14 Oberbürgermeister erscheinen nacheinander in der Serie „Über die Jahresschwelle“ auf dieser Plattform sowie gebündelt am 2. und 8. Januar im #stadtvonmorgen-Newsletter. Der Newsletter kann kostenlos hier abonniert werden.
Transformation zur „Grünen Wasserstoffhauptstadt“
stadtvonmorgen: Ob Energie, Mobilität, Innenstadtentwicklung, Digitalisierung, Wohnungsbau oder Klimaschutz und -anpassung: Das Spektrum großer Transformationsthemen, vor denen Städte stehen, ist weit. Auf welchen Feldern liegen speziell für Ihre Stadt die zentralen Zukunftsthemen und drängendsten Herausforderungen?
Dieter Krone: Grüner Wasserstoff und Künstliche Intelligenz sind für die Stadt Lingen die zentralen Zukunftsfelder. Mitte April 2023 ist das Kernkraftwerk Emsland vom Netz und damit ein Stück Lingener Geschichte zu Ende gegangen. Doch anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, haben wir die Zeit seit dem Bundestagsbeschluss zum Atomausstieg 2011 genutzt und in Lingen einen Transformationsprozess zur „Grünen Wasserstoffhauptstadt Lingen“ vorangetrieben. Lingen profitiert durch ihre herausragende geografische Lage mit direktem Zugang zu grünem Windstrom. Zudem ist die erforderliche Infrastruktur in Form von Pipelines und Leitungen vorhanden. Ein entscheidender weiterer Pluspunkt Lingens ist, dass wir die Produzenten und potenziellen Abnehmer für grünen Wasserstoff und für die Abwärme der Elektrolyseure vor Ort haben. Das hat auch die Politik erkannt, und so erhalten die Lingener Wasserstoffprojekte mehr als 637 Millionen Euro Fördermittel im Rahmen des Programms „Important Project of Common European Interest“ (IPCEI).
Künstliche Intelligenz als Zukunftsfeld
stadtvonmorgen: Zum Thema KI?
Dieter Krone: Für uns ist Künstliche Intelligenz – kurz KI – ein Zukunftsfeld. Die Entwicklungen in diesem Bereich sind enorm und brauchen neben viel Knowhow vor allem eins: Energie – und diese sollte idealerweise grün sein. Das ist einer der Gründe, warum sich der KI Park e.V. dazu entschieden hat, Lingen zu einem von drei sogenannten Satellitenstandorten des Innovationsökosystems für Künstliche Intelligenz zu machen. Zum KI Park e.V. zählen rund 200 Mitglieder aus elf Ländern, darunter internationale Unternehmen wie Schaeffler, Volkswagen, Bosch, Deloitte oder Nvidia. Dank dieser Bündelung renommierter Experten, Forschungseinrichtungen, Start-ups und etablierter Unternehmen sollen KI-Strategien, -Produkte und -Services schneller entwickelt, erprobt und implementiert werden. So will die Stadt Lingen insbesondere neue Unternehmen für den geplanten IT-Campus gewinnen. Insgesamt können dort in den nächsten Jahren bis zu 2.000 neue innovative IT-Arbeitsplätze entstehen.
Transformation braucht Weichenstellungen
stadtvonmorgen: Welches sind dabei die größten Hürden für Ihre Stadt?
Dieter Krone: Insbesondere im Bereich grüner Wasserstoff brauchen die Unternehmen Planungssicherheit und ein klares Bekenntnis der Politik zum Ausbau der erneuerbaren Energien. Wenn Deutschland die Energiewende will, muss die Politik auch bereit sein, die entsprechenden Weichen zu stellen.
stadtvonmorgen: Wo sehen Sie die wichtigen Stellschrauben: Was braucht Ihre Stadt, um Ihre Aufgaben zu meistern und in die Zukunft zu schreiten?
Dieter Krone: Die Themen Energie und Klimawandel beschäftigen nicht nur die großen Unternehmen in unserer Stadt. Seitens des Gesetzgebers sind wir auch als Stadt Lingen bis Mitte 2028 verpflichtet, eine kommunale Wärmeplanung vorzunehmen. Dies ist ein strategisch angelegter Prozess mit dem Ziel einer weitgehend klimaneutralen Wärmeversorgung. Wir wollen in Lingen aber nicht so lange warten, sondern sind schon jetzt zusammen mit unseren Stadtwerken und unserer Stadtentwässerung dabei, möglichst schnell ein attraktives und für Verbraucher kostengünstiges Fernwärmenetz für unsere Stadt aufzubauen. Bei der Produktion von Wasserstoff entsteht im Industriepark ein riesiges Potenzial an Abwärme, das wir nutzen und über ein neues Leitungssystem in die Innenstadt führen wollen. Parallel werden wir die grüne Abwärme unserer Kläranlage nutzen, um Redundanzen, also eine doppelte Absicherung der Anlagen sicherzustellen, falls aus technischen Gründen eine ausfallen sollte. Zu den Abnehmern zählen beispielsweise das Bonifatius Hospital, das Rathaus, Schulen, Kindergärten oder auch Seniorenheime. Im einem Neubaugebiet sind schon keine Erdgasleitungen, sondern nur noch Fernwärmeleitungen verlegt worden. Nach und nach ist geplant, weitere große Wärmequellen zu nutzen und so weitere Stadt- und Ortsteile an das Wärmenetz anzuschließen.
Planungssicherheit und klare Vorgaben
stadtvonmorgen: Was erwarten Sie sich von der Bundespolitik und einer sich neu formierenden Regierung für die Kommunen?
Dieter Krone: Wir brauchen Planungssicherheit und damit klare Vorgaben. Nur so können wir die Herausforderungen der Zukunft meistern und beispielsweise unseren Teil zur Energiewende beitragen.
stadtvonmorgen: Was ist Ihr erreichbares, nicht zu fernes Zielbild: Wie sieht Ihre Stadt von morgen aus, welche typischen Merkmale hat sie?
Dieter Krone: Unser Ziel ist es, CO2-neutral zu werden. Deshalb treiben wir die Entwicklungen sowohl in Punkto grüner Wasserstoff als auch im Bereich Fern- und Nahwärme massiv voran. Zudem will Lingen zum Dreh- und Angelpunkt für Künstliche Intelligenz werden.
Info
Die Interviews mit allen 14 Oberbürgermeistern in der Serie „Über die Jahresschwelle“ gibt es zum Nachlesen gebündelt in den #stadtvonmorgen-Newslettern am 2. und am 8. Januar. Anmeldung kostenlos hier.
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.

