„Weimar ist Deutschland in nuce.“ Als Bundespräsident Roman Herzog vor 25 Jahren am 19. Februar 1999 das Programm der europäischen Kulturstadt Weimar eröffnete, befand sich die Bundesrepublik in Bewegung. Gerhard Schröder war gerade zum Bundeskanzler gewählt worden, und die ausklingenden poppig-bunten 1990er Jahre versprachen nicht nur grenzenlose Konsumfreude und Prosperität, sondern auch frischen Wind nach der langen Regierungszeit von Helmut Kohl. Ein ganzes Land befand sich im Aufbruch – und Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung 1990 besonders. Das thüringische Weimar war 1999 als kulturelles Zentrum Europas ein Kristallisationspunkt der Ströme dieser Zeit: „Hier konzentriert sich vieles von dem, was unser Land, unsere Kultur und unsere Tradition ausmacht“, sagte Herzog bei der Eröffnung. Deutschland in nuce eben.
Ein Sommermärchen in Weimar
Es war wie ein Vorbote des sogenannten Sommermärchens 2006, der für Weltoffenheit und Gastlichkeit stehenden Fußballweltmeisterschaft in Deutschland: Geschätzt sieben Millionen Besucher kamen 1999 ins historisch und kulturell aufgeladene Weimar. „Wenn wir sagen, Weimar ist Deutschland in nuce, dann sagen wir damit auch, dass es eine Stadt ist, in der nicht nur Kultur und Geist, sondern auch Unkultur und Barbarei zu Hause waren“, reflektierte Herzog. Da steht das Deutsche Nationaltheater, wo die Verfassung der Weimarer Republik entstand, neben DDR-Bauten, da kündet das Goethe-Schiller-Denkmal vom Welterbe und dem Geist der Aufklärung unweit der KZ-Gedenkstätte Buchenwald.

Die ostdeutsche Stadt selbst ist Inbegriff von Gegensätzen und von Transformation. Dass sie 1993 dazu auserkoren wurde, sich zur europäischen Kulturstadt aufzuschwingen, barg für sie eine große Chance. „Im Zeitraffer“ habe man damit Stadtentwicklung betreiben können, erinnert sich Bernward Fechtel. Fechtel leitet das Stadtentwicklungsamt. Seit 1995 ist er in Weimar und hat den Kulturstadtprozess begleitet.
Kulturstadt-Organisation und Nachwende-Stadtumbau
Spreche man über die Kulturstadt und darüber, was von ihr 25 Jahre später noch bleibt, müsse man differenzieren, sagt Fechtel: zwischen dem Kulturprogramm, das 1999 stattfand, und den für das Veranstaltungsjahr geschaffenen baulich-infrastrukturellen Voraussetzungen. Nach der Wende habe sich die Weimarer Altstadt in einem „vernachlässigten“ Zustand befunden. Infrastruktur und Straßen seien so „desolat“ wie in vielen anderen ostdeutschen Städten gewesen, blickt Fechtel zurück. Mit der Organisation des Kulturstadtjahrs und dem nötigen Nachwende-Stadtumbau seien also zwei wesentliche urbane Aufgaben in der Dekade zusammengefallen: „Der Motor war voll am Laufen.“ Das Kulturstadtetikett habe die städtebauliche Progression entscheidend dynamisiert und beschleunigt.
„Weimar hat innerhalb von fünf Jahren das geschafft, was andernorts 15 Jahre oder länger dauerte“, meint Fechtel. Nach Schätzungen sind zwischen 1993 und 1999 kulturstadtbedingt und nachwendebedingt 1,3 bis 1,5 Milliarden D-Mark an öffentlichen und privaten Investitionen in Weimar getätigt worden. Das Geld floss in Bauten und in die Infrastruktur. Neben den großen öffentlichen Anstrengungen, inklusive erheblicher Fördermittel von Land und Bund, weckte das Kulturstadtlabel verstärkt privates Interesse und zog Kapitalgeber an. Mit der Perspektive auf eine neue Prosperität wurden Gebäude saniert und Baulücken geschlossen. Fechtel spricht vom „Zeitensprung“ und vom noch immer nachwirkenden „Schub nach vorne“ für die Stadt.
Kulturstadt manifestiert sich im Städtebau
Ein markantes Beispiel für den Nachhall des Kulturstadtjahrs ist die Weimarhalle, ein damals statisch maroder Bau. Getrieben vom Pragmatismus, der die Vorbereitungen auf das Kulturereignis bestimmte, wurde sie kurzerhand abgerissen und als modernes Kongresszentrum neu errichtet. In dieser Funktion spielt die Weimarhalle für den städtischen Tagungstourismus noch heute eine tragende Rolle. Die Weimarhalle ist eines von elf prägenden Infrastrukturprojekten mit Kulturstadtbezug, die in einem eigenen Sonderprogramm der Städtebauförderung mit deutlich verringertem kommunalen Eigenanteil von 2,5 Prozent liefen.

Doch für Weimar war das Kulturstadtjahr nicht nur ein städtebaulich einschneidendes. Für die 65.000 Einwohner große Stadt war es auch ein mental prägendes Ereignis. „Die, die es erlebt haben, reden nach wie vor davon“, meint Fechtel. Die Menschen identifizierten sich und die heutige „Kulturstadt Weimar“ noch immer damit, es sei „in die DNA von Weimar eingegangen“. In der Stadtgesellschaft habe es tiefe Spuren hinterlassen. Beispielsweise habe es in der regionalen Kulturarbeit zu einer stärkeren Vernetzung zwischen den Institutionen und der freien Szene beigetragen. Deren Nachhaltigkeit spiegele sich in der Organisation des jährlichen Weimarer Kunstfests wider.
Zudem geht die sogenannte Impulsregion, ein Netzwerk der Städte Weimar, Erfurt, Jena und des Landeskreises Weimar Land, auf das Kulturstadtjahr zurück. Im Zuge der Kulturstadtpläne fand sich ein „Regionaler Beirat“ zusammen. Die Impulsregion setzt dessen Arbeit fort. Noch immer stimmen sich in dem Netzwerk die Gebietskörperschaften über gemeinsame Themen der Regionalentwicklung – wie Fragen der Mobilität, der Abfallwirtschaft oder des regionalen Marketings – ab.
„Deutschland in nuce“: Was bleibt?
Doch wie ist die Lage der Stadt heute, 25 Jahre nach dem pompösen Kulturevent? Die von Pragmatismus geprägte Aufbruchstimmung ist einer alltäglichen Betriebsamkeit gewichen. Als Oberbürgermeister Peter Kleine bei seiner Weihnachtsansprache im Dezember 2023 das endende Jahr reflektierte, nannte er markante Ereignisse der vergangenen Monate. Demnach sind in Weimar die ersten Wasserstoffbusse in Thüringen unterwegs. Die Feuerwehr hat neue Sirenen für einen besseren Bevölkerungsschutz installiert. Die Stadt hat den Ausbau einer wichtigen Verkehrsachse, der Ettersburger Straße, unter einer Eisenbahnüberführung fertiggestellt. Und man wundere sich über „teure und nicht mehr nachvollziehbare Gema-Gebühren“ für den Weihnachtsmarkt, so Kleine.
Nach dem Jahreswechsel ist die Stadtgesellschaft in Wallung geraten. Auf den imposanten Plätzen Weimars demonstrieren in diesen Tagen – wie in vielen anderen Städten der Republik – Tausende gegen Rechtsextremismus. Fazit: Weimar bleibt Deutschland in nuce.
Info
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.

