Der Stadtrat hatte dem Vorhaben einstimmig zugestimmt, und so konnte Oberbürgermeister Ralf Claus beim Besuch einer Delegation aus der ukrainischen Stadt Kolomyia in Ingelheim vor wenigen Tagen mit großem politischem Rückhalt die Partnerschaftsurkunde unterzeichnen. Verbunden sind Ingelheim und Kolomyia bereits über die gemeinsame polnische Partnerstadt Nysa. Nun starten die rund 35.000 Einwohner zählende rheinland-pfälzische Kommune und die etwa 75.000 Einwohner große ukrainische Stadt eine eigene Solidaritätspartnerschaft. Sie ist zum einen ein Zeichen des Zusammenhalts im Ukrainekonflikt auf kommunaler Ebene, sie soll zum anderen aber „nicht nur symbolisch“ wirken, so Claus. Denn beide Städte wollen die Partnerschaft „mit Leben füllen“.
200 deutsch-ukrainische Partnerschaften im Netzwerk
Mit der Solidaritätspartnerschaft ist Ingelheim Teil des deutsch-ukrainischen Partnerschaftsnetzwerks, das von Engagement Global koordiniert wird. Rund 200 deutsch-ukrainische Partnerschaften gibt es darin. Das Netzwerk wurde 2015 gegründet, um auf kommunaler Ebene den Austausch zwischen der Ukraine und Deutschland im Zeichen Europas zu stärken. Im Januar 2022 verzeichnete es rund 70 Partnerschaften. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich die Anzahl verdreifacht. Im Netzwerk sind 355 Kommunen, 194 deutsche und 161 ukrainische.
Zu seinem dynamischen Wachstum habe außerdem beigetragen, dass der deutsche und der ukrainische Präsident, Frank-Walter Steinmeier und Wolodymyr Selensky, im Oktober 2022 die Schirmherrschaft dafür übernommen haben, erklärt Olena Ovcharenko. Sie leitet bei der Servicestelle Kommunen in der Einen Welt (SKEW) von Engagement Global das Projekt „Kommunale Partnerschaften mit der Ukraine“. Seit Kriegsbeginn sei ein großes Interesse aus deutschen Kommunen feststellbar, zielgerichtet vor Ort in der Ukraine zu helfen. Der Austausch über Städtepartnerschaften oder projektbezogen sogenannte Solidaritätspartnerschaften seien dafür geeignete Formate.
Die lokale Lage prägt die Solidaritätspartnerschaft
Das Netzwerk bietet diesbezüglich eine Plattform. Die SKEW begleitet im Auftrag und mit Mitteln des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) den kommunalen Austausch – von der Anbahnung einer Städtekooperation über die Verstetigung der Partnerschaft bis zur konkreten Projektumsetzung. Dabei stellt Ovcharenko auch zwei Jahre nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine eine große Solidarität und ein anhaltend starkes Engagement deutscher Kommunen fest.
Inhaltlich hätten sich die Städtekooperationen allerdings verändert. Während es in der Phase vor dem Krieg eher darum gegangen sei, Beziehungen aufzubauen und die Zusammenarbeit der Verwaltungen hinsichtlich europäischer Standards zu forcieren, seien mit der russischen Invasion die akute Nothilfe und die Gründung neuer Partnerschaften in den Fokus gerückt. Mit dem Kriegsverlauf seien die neuen Verbindungen dann immer konkreter geworden, hätten sich verstetigt und in konkreten Projekten ausdifferenziert. Denn je nach regionaler Lage und Betroffenheit vom Kriegsgeschehen hätten die ukrainischen Kommunen unterschiedliche Bedarfe.
Von der Solidaritätspartnerschaft bis zum Dreierbündnis
Die Zusammenarbeit auf kommunaler Ebene reicht von Hilfskonvois und Materiallieferungen in die Ukraine bis hin zur sozialen Unterstützung mit Rehamaßnahmen beispielsweise für Binnenflüchtlinge oder Kinder. Doch der deutsch-ukrainische Austausch umfasst darüber hinaus auch langfristige Projekte sowohl hinsichtlich des Wiederaufbaus als auch grundsätzlich mit Blick auf die urbane Transformation und die Verwaltungsentwicklung. Dazu gehört der Wissenstransfer in den zentralen Bereichen der Daseinsvorsorge wie der Wasserversorgung, dem Energiesystem, dem Gesundheitswesen oder der kommunalen Abfallwirtschaft.
Im deutsch-ukrainischen Partnerschaftsnetzwerk agieren Kommunen jeglicher Größenordnung, von der Kleinstadt bis zur Metropole, von der Gemeinde bis zum Landkreis, beschreibt Ovcharenko. Dabei sei mit dem Fortschreiten des Kriegsgeschehens nicht nur eine Verstetigung der Kooperationen, sondern auch eine Verbreiterung der Formate erkennbar. Zum einen entstünden zunehmend regionale Partnerschaften wie die zwischen dem Saarpfalz-Kreis und der ukrainischen Region Lwiw. Zum anderen wüchsen sich bilaterale Kontakte zu multilateralen Kooperationen aus.
Schlagkräftiger durch multilaterale Kooperationen
Exemplarisch weist Ovcharenko auf die Dreierbündnisse von Jena, Erlangen und dem ukrainischen Browary oder von Münster, dem polnischen Lublin und Winnyzja. Mit Blick auf die Unterstützung ukrainischer Kommunen in Kriegszeiten berge dies den Vorteil, dass sich Lasten im kommunalen Verbund auf mehrere Schultern verteilten, sagt Ovcharenko.
Um eine Partnerschaft zu etablieren, sei über Onlinetreffen zwischen Städtevertretern hinaus oft das persönliche Kennenlernen, bei dem die Felder der zukünftigen Zusammenarbeit besprochen werden, ein wichtiger Faktor. Daher fördert die SKEW unter anderem Delegationsreisen. Im persönlichen Dialog könnten konkrete Anliegen oft vertrauensvoller besprochen werden als über digitale Kanäle, erklärt Ovcharenko.
Ingelheim: persönlicher Kontakt als Grundlage
Als Kolomyias Bürgermeister Bogdan Stanislavskyi zuletzt in der ihm bis dato „unbekannten Stadt“ Ingelheim zu Gast war, fand ein solcher Austausch statt. Neben materieller Hilfe vereinbarten die Stadtlenker für die Zusammenarbeit zwischen Kolomyia und Ingelheim unter anderem soziale Themen wie Fahrten ukrainischer Kinder und Jugendlicher nach Deutschland für eine Auszeit zur psychischen Erholung.
Info
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.