Streit um den Stadtverkehr von morgen

Artikel anhören
Artikel zusammenfassen
Teilen auf LinkedIn
Teilen per Mail
URL kopieren
Drucken

„Aus der Stadt für die Stadt“ soll das Mobilitäts- und Verkehrskonzept der Stadt Marburg, kurz MoVe 35, sein, wie Oberbürgermeister Thomas Spies in einem städtischen Erklärvideo berichtet. Doch als das Programm im Juli 2023 im Lokalparlament vorlag, flammte ein hochemotionaler Streit darüber auf. Eine Bürgerinitiative macht dagegen mobil. Nun hat die Stadtverordnetenversammlung beschlossen, die Bürger über MoVe 35 abstimmen zu lassen. Der Bürgerentscheid widmet sich der Frage, ob der Autoverkehr halbiert werden soll. Er findet parallel zur Europawahl am 9. Juni statt.

MoVe 35: Streit um Einzelmaßnahmen

Der Fall ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie eine Stadt ihren Verkehr zukunftsfähig ausrichten und klimafreundlich neu organisieren will, sondern auch, in welchem Spannungsfeld die Verkehrswende vonstattengeht und wie intensiv über Einzelmaßnahmen in der Stadtgesellschaft gerungen werden kann. Zwar trifft die abstrakte Idee von MoVe 35 auf breiten Konsens: Spies spricht in dem Video von einer „gesamthaften, langfristig ausgerichteten Strategie für die Mobilität der Zukunft“, mit der man deren „Umwelt- und Stadtverträglichkeit“ verbessern wolle. Das Konzept will die Teilhabe an der Mobilität, die Erreichbarkeit des Oberzentrums, die attraktive Gestaltung des urbanen Raums und den Umschwung auf den Umweltverbund voranbringen. Hinter diesen Zielen können sich die Bürger leicht versammeln.

Doch was bedeutet das konkret? Der Streit um MoVe 35 entzündet sich weniger am großen Ganzen als vielmehr an den einzelnen Projekten, die bis 2035 umgesetzt werden sollen. Insbesondere dreht er sich um das Vorhaben, den Anteil des Umweltverbunds am städtischen Verkehr von derzeit 58 Prozent auf möglichst 79 Prozent zu erhöhen. Dies würde folglich eine Halbierung des individuellen Autoverkehrs bedeuten. Im September 2023 wurde also das „Bürgerbegehren zur Sicherung der verkehrlichen Zugänglichkeit unserer Stadt Marburg“ mit über 8.000 Unterschriften bei der Stadt eingereicht. Es zielt im Grunde darauf ab, MoVe 35 zu kippen und eine Neufassung zu veranlassen. Aufgrund formaler Mängel wies die Stadtverordnetenversammlung im November das Bürgerbegehren zurück.

Spaltung der Stadtgesellschaft droht

Die Ablehnung ließ das Protestpotenzial gegen MoVe 35 aber weiter steigen. „Die Diskussionskultur hat immer stärker gelitten, mit immer wieder jedes angemessene Maß überschreitenden öffentlichen Äußerungen von Einzelpersonen“, sagte Spies im Dezember. „Dadurch wurde eine Spaltung der Stadtgesellschaft eskaliert. Zudem wurden auch gegenüber den Beschäftigten der Verwaltung inakzeptable Drohungen und Unterstellungen geäußert, die nicht hingenommen werden können.“ Daher schlug er dem Lokalparlament vor, einen Bürgerentscheid zu organisieren. „Der Zusammenhalt der Stadt muss ein zentrales Ziel von Kommunalpolitik sein.“ Der könne nur „durch eine abschließende Entscheidung der Bürger selbst gesichert werden“.

Darauf richtet sich nun der Beschluss der Stadtverordnetenversammlung vom Freitag. Der Bürgerentscheid soll am 9. Juni stattfinden. Allerdings zielt er dann nicht, wie ursprünglich von Spies vorgeschlagen, grundsätzlich auf MoVe 35 ab. Die Stadtverordnetenversammlung votierte mit 51 von 59 Stimmen dafür, die Teilfrage, über die am heftigsten gestritten wurde, zu fokussieren. Demnach soll der Text des Bürgerbegehrens lauten: „Sind Sie dafür, dass das im Rahmen von MoVe 35 beschlossene Ziel einer Halbierung des Pkw-Verkehrs zugunsten anderer Verkehrsmittelnutzungen weiterhin verfolgt wird?“

Transformation der Mobilität mit Reibung

Außerdem sprach sich das Lokalparlament einstimmig dafür aus, die Erreichbarkeit der Stadt mit allen Verkehrsträgern zu verbessern und den weiteren Fortgang von MoVe 35 mit einer intensiven Bürgerbeteiligung zu begleiten. „Mobilität verändert sich“, sagt Spies im städtischen Erklärvideo. Dass diese Transformation im demokratischen Prozess Reibung mit sich bringt, ist eine weitere Erkenntnis.

a.erb@stadtvonmorgen.de

Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.