Hunderttausende gingen am Wochenende auf die Straße: Die deutschen Städte sind Zentren von Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und gegen die rechtspopulistische Partei AfD. Der Anlass des Protests sind Berichte des Recherchenetzwerks Correctiv über ein Treffen zwischen Rechtsextremen und unter anderem AfD-Funktionären sowie Mitgliedern der Werteunion. Bei dem Treffen in Potsdam soll über Remigration, die massenhafte Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund, gesprochen worden sein. Darüber zeigen sich die Städte „schockiert“. In der sogenannten Trierer Erklärung warnte der Deutsche Städtetag am Donnerstag vor einer Erosion der Demokratie. Was sagen Oberbürgermeister dazu? Wie ist die Lage in ihrer Stadt? Und was bedeutet die rechtsextreme Bedrohung für Ihre Stadtgesellschaft? Darüber spricht #stadtvonmorgen mit Belit Onay, dem Oberbürgermeister von Hannover.
„Vielfalt ist Lebensrealität in unseren Städten“
#stadtvonmorgen: Herr Onay, rund 35.000 Menschen haben am Samstag in Hannover gegen rechtsextreme Strömungen und die AfD demonstriert. Sie waren dabei. Welches Zeichen möchte die Demo, welches Zeichen möchten Sie setzen?
Belit Onay: Zunächst einmal hat es mich bewegt zu sehen, dass aus dem Stand 35.000 Menschen zusammenkommen, um ein starkes gemeinschaftliches Signal für unsere Demokratie und unsere freiheitlichen Werte zu setzen. Es ist vor allem ein Signal der Solidarität an diejenigen mit Migrationshintergrund, die Zielscheibe von rechtsextremen Thesen der Remigration, konkret also der Deportation von Menschen, sind. Ich weiß aus persönlichen Gesprächen, dass sich viele getroffen fühlen: Viele Familien, Jugendliche und Kinder stellen sorgenvolle Fragen, was ihre Zukunft in unserem Land betrifft. Jedes zweite Neugeborene in Hannover hat einen Migrationsbezug. Vielfalt ist Lebensrealität in unseren Städten. An all diese Menschen geht das Signal: Wir stehen zusammen, wir stehen zu Demokratie und Freiheit, und wir zeigen der AfD und allen rechten Kräften die rote Karte.
#stadtvonmorgen: Bundesweit gibt es derzeit eine Bewegung, tausende Menschen gehen auf die Straße für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Doch wie nachhaltig ist dieses Engagement? Was muss nun daraus folgen?
Belit Onay: Ich bin 1981 geboren und erinnere mich noch sehr gut an die 1990er Jahre, als an vielen Stellen der Republik rechte Gewalt aufflammte, beispielsweise in Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Hoyerswerda oder Solingen. Politisch waren die „Republikaner“ auf dem Vormarsch, und man sprach vom Rechtsruck. Den damaligen Morden standen als Signale der Hoffnung Lichterketten gegenüber, die Menschen gingen auf die Straße. Damals wie heute ist die Politik in einer wichtigen und verantwortungsvollen Rolle: Sie muss zum einen die Sorgen der Menschen ernstnehmen, zum anderen aber auch das Anliegen einer liberalen und offenen Gesellschaft verteidigen. In den 1990er Jahren ist es gelungen, das Geschwür des Rechtsextremismus zurückzudrängen.
Verantwortung der Politik und jedes einzelnen
#stadtvonmorgen: Wie kann das aber konkret gehen? Besteht nicht die Gefahr, dass die Demonstrationen nach einer Weile „auslaufen“ und verpuffen? Was muss jetzt folgen?
Belit Onay: Tatsächlich darf das Aufbäumen der Zivilgesellschaft keine Eintagsfliege und kein Strohfeuer sein. Es muss über die großen Signale der Demonstrationen hinausgehen und sich verstetigen. Hier sind alle gesellschaftlichen Kräfte gefragt, für eine tolerante und weltoffene Gesellschaft einzutreten. Blickt man auf die Umfragen zur Parteienlandschaft, ist die AfD keine „ferne Splitterpartei“ mehr, sondern ragt ins direkte Umfeld vieler. Es liegt in der Verantwortung jedes einzelnen, sich der Diskussion zu stellen und rechtsextremem Gedankengut entgegenzustehen. Entscheidend ist darüber hinaus, dass die Politik keine Lippenbekenntnisse abgibt, sich des Kampfes gegen Rechtsextremismus annimmt und eindeutig für eine weltoffene, liberale Gesellschaft eintritt. Mit dem neuen Staatsbürgerschaftsrecht hat der Bundestag dafür zuletzt ein wichtiges Zeichen gesetzt, in dem sich die Vielfalt unserer Gesellschaft widerspiegelt. Es braucht einen Konsens, der die demokratischen Kräfte eint und den sie gemeinsam verteidigen.
#stadtvonmorgen: Anlass der Demonstrationen ist ein bekanntgewordenes Treffen zwischen Rechtsextremen und unter anderem AfD-Funktionären, bei dem offen die Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund besprochen wurde. Was bedeutet es für den sozialen Zusammenhalt in einer Stadtgesellschaft, wenn solches Gedankengut zirkuliert?
Belit Onay: Mit historischen Parallelen bin ich vorsichtig. Doch auch dies lässt mich an die 1990er Jahre denken. Was damals der pöbelnde Ausruf „Ausländer raus!“ war, ist heute der Begriff „Remigration“. In seinem technisch kühlen Sound erinnert er an die dunkelsten Zeiten deutscher Geschichte, als Deutschen das Deutschsein abgesprochen und Menschen nach Religion oder Herkunft klassifiziert wurden. Die Demonstrationen zeigen, dass für viele hier die rote Linie weit überschritten ist. Und für uns Oberbürgermeister ist dies ein direkter Angriff auf die Stadtgesellschaft, in Hannover konkret auf jedes zweite Neugeborene. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir das Versprechen „Nie wieder“ gegeben. Das darf keine Floskel sein: „Nie wieder“ ist jetzt. Und viele haben das verstanden.
Politik muss Perspektiven und Chancen aufzeigen
#stadtvonmorgen: Was bedeutet das Auftreten des Rechtsextremismus für das Profil einer Stadt wie Hannover?
Belit Onay: Im Klang der Demonstrationen für unsere Demokratie sind vermehrt auch Stimmen der Wirtschaft zu hören. Denn nicht nur die Zivilgesellschaft ist besorgt. Hannover beheimatet große mittelständische Unternehmen, zum Teil Hidden Champions und Weltmarktführer. Die Unternehmen agieren international, grenzüberschreitend. Hannover ist nicht nur eine deutsche Metropole, sondern auch eine europäische, eine global vernetzte. Vor diesem Hintergrund höre ich immer lauter von ansässigen Unternehmern und übrigens auch aus der Wissenschaft die Befürchtung, dass die rechtsextremen Umtriebe zum Standortproblem – nicht nur für Hannover, sondern für das ganze Land – werden. Der Blick auf Deutschland in diesen Tagen ist ein besonders aufmerksamer und ein besonders kritischer. Für ein fatales, abschreckendes Image haben die rechtsextremen Auswüchse schon gesorgt – auf allen Ebenen, von der Fachkräftegewinnung bis hin zur Investitionsbereitschaft. Nicht zuletzt deswegen werden wir ihnen in Hannover laut und deutlich widersprechen, und wir wissen tausende Menschen auf unserer Seite.
#stadtvonmorgen: Energiewende, Verkehrswende, Wärmewende – Stadtgesellschaften stehen vor tiefgreifenden Transformationsaufgaben, die durchaus mit spannungsgeladenen Debatten beispielsweise um Windkraft oder um die Aufteilung des öffentlichen Raums einhergehen. Wie steht dies in Zusammenhang mit der aktuellen Sorge um Rechtsextremismus: Wie sehr lähmt einerseits der existentielle Streit um unsere demokratische Ordnung wichtige Transformationsbestrebungen; und wie sehr kommen andererseits emotionale und kontroverse demokratische Debatten auf anderen Politikfeldern rechtsextremen Gruppierungen zugute?
Belit Onay: Ich denke, zwischen beiden Ebenen besteht ein sehr großer Zusammenhang. Dies stelle ich nicht nur in Deutschland fest, sondern auch für die USA und den europäischen Kontext, beispielsweise beim Brexit. Tiefgreifende Herausforderungen wie der Kampf gegen den Klimawandel und gesellschaftlich notwendige Transformationen gehen mit Veränderungen und dadurch gewissen Unsicherheiten einher. Dass Populisten und Rechtsextreme diesbezüglich gezielt Ängste schüren und Desinformation betreiben, ist ein international zu beobachtendes Phänomen und ein Konzept, das bisweilen leider erfolgreich sein kann. Umso größer ist die Verantwortung der Politik, die Transformationsaufgaben gut zu managen, Perspektiven aufzuzeigen und so die Angst vor Veränderung zu nehmen. Es geht darum, Möglichkeiten in den Mittelpunkt zu stellen. Etwa die Chance, ein besseres Leben in einer klimagerechten Stadt zu führen. Politik muss diese hoffnungsvolle Aussicht vermitteln.
Rechtsextremismus: Erinnerungen an die 1990er
#stadtvonmorgen: Erlauben Sie mir, Ihre persönliche Biografie anzusprechen. Ihre Familie hat türkische Wurzeln. Wie groß sind Ihre Sorgen, wenn Sie von derartigen rechtsextremen Treffen hören, wie fühlen sich die Ereignisse für Sie an?
Belit Onay: Nochmal: Sie erinnern mich an die 1990er Jahre. Ich war elf, zwölf Jahre alt und habe meine eigenen Sorgen angesichts der damaligen Morde an Migranten noch klar im Gedächtnis. Zu dieser Zeit zog Angst durch viele Familien – auch durch meine. Ähnliche Sorgen flammen nun wieder auf: Junge Menschen, Eltern, Familien fragen, ob sie noch sicher sind in Deutschland. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Eltern in den 1990er Jahren erwogen, „zurückzukehren“ nach Istanbul. Doch für mich wäre es kein „zurück“ gewesen, sondern ein „weg“ aus meiner Heimat Goslar, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Ich kann das Gefühl, in seinen Wurzeln erschüttert zu sein, und die Sorgen vieler Menschen nachempfinden. Ein solches Klima nimmt unserem Land Zukunftschancen. Es ist Gift für eine Gesellschaft und für das Deutschland von morgen. Deshalb ist das Signal der Solidarität, das von den Demonstrationen ausgeht, so wichtig und nicht hoch genug einzuschätzen.
Info
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.

