Er sei ein „Enteigner“. So lautete der Vorwurf, den Boris Palmer, der Oberbürgermeister von Tübingen, 2019 über sich in großen Tageszeitungen lesen musste. Im Kampf gegen den Wohnraummangel hatte Palmer vorgeschlagen, mit dem Baugebot die Eigentümer brachliegender Grundstücke zum Bauen zu zwingen. Palmer war einer der wenigen, die das Instrument nutzen wollten, gegenüber #stadtvonmorgen sprach er damals vom „vergessenen Gesetz“. Mittlerweile ist die Wohnungsknappheit in vielen Städten aber so groß, dass sich immer mehr Kommunen damit beschäftigen. Gerade gibt das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) die Empfehlung, das Baugebot anzuwenden, heraus. Derweil rückt man in Tübingen schon wieder davon ab.
Wohnraummangel und Flächenverbrauch entgegenwirken
In der jüngsten Ausgabe der Schriftenreihe „Difu-Impulse“ plädieren die Stadtforscher Arno Bunzel, Stefanie Hanke, Magnus Krusenotto und Daniela Michalski dafür, das Baugebot „bei der Aktivierung von unbebauten oder geringfügig bebauten Baugrundstücken für den Wohnungsbau häufiger und besser“ zu nutzen. Die Schaffung von Wohnraum sei eine der vordringlichen Herausforderungen im urbanen Kontext. Es gelte, Brachflächen, Leerstände oder Baulücken zu aktivieren – auch hinsichtlich des Ziels der Bundesregierung, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu schaffen.
Zudem müsse die Ausdehnung der Siedlungsfläche im Sinne der Ressourcenschonung zugunsten einer Innenentwicklung möglichst vermieden werden. Der Bund hat das Ziel, bis 2030 die Flächeninanspruchnahme auf unter 30 Hektar pro Tag zu begrenzen. Das Innenentwicklungspotential in Deutschland liegt laut Difu-Publikation schätzungsweise bei rund 84.000 Hektar. 40 Prozent davon sind Brachflächen, 60 Prozent Baulücken.
Das Baugebot als „Durchsetzungsoption“
Das Baugebot, das Grundstückseigentümer zum Bauen verpflichtet, spiele demgegenüber im kommunalen Handeln bislang kaum eine Rolle, stellen die Wissenschaftler fest. Das hänge wohl damit zusammen, dass Verwaltungen oft an Kapazitätsgrenzen stoßen und es ihre personelle Ausstattung nicht zulässt, nicht zwingend notwendige Verfahren durchzuführen. Gleichwohl sehen die Wissenschaftler im steigenden Druck auf den Wohnungsmarkt den Grund dafür, dass das Interesse an der Nutzung des Baugebots steigt.
Dabei beschreiben sie das Baugebot insbesondere als strategische Option. Da es massiv in die Dispositionsfreiheit des Eigentümers eingreife, dürfe es nicht am Beginn eines Prozesses stehen. Vielmehr seien zunächst alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um die Eigentümer zum freiwilligen Bauen zu motivieren. „Die Aktivierung von ungenutzten Baurechten fängt nicht mit der Anordnung des Baugebots an. Das Baugebot ist vielmehr das letzte Mittel“, schreiben die Wissenschaftler. Die Verhandlungen mit den Eigentümern müssten auf deren Mitwirkungsbereitschaft abzielen und eine Akzeptanz für die wohnraumpolitischen Herausforderungen und Ziele der Kommune schaffen. Das Baugebot könne als „Durchsetzungsoption“ dienen.
Tübingen rückt vom Baugebot ab
In Tübingen hatte die Stadt ursprünglich 236 Grundstückseigentümer angeschrieben, um deren Bauabsicht abzufragen. In Folge dessen zeigen sich laut einer Beschlussvorlage des Gemeinderats für 67 Grundstücke konkrete Bauabsichten. Dennoch hat der Tübinger Gemeinderat im Juli 2022 entschieden, von der bereits vorbereiteten Durchsetzung des Baugebots für die restlichen Areale wieder abzurücken. Die Beschlussvorlage begründet dies mit „zwei Gesetzesänderungen und dem Kostenschock im Wohnungsbau“, die die Rahmenbedingungen für die Anwendung des Baugebots „erheblich verändert“ hätten.
So geben 69 Eigentümer der übrigen 169 Grundstücke, für die keine konkrete Bauabsicht erkennbar ist, an, ihr Grundstück für Verwandte in gerader Linie vorzuhalten. Demnach kommt in diesen Fällen ein Baugebot nicht mehr in Betracht. Hier zeige sich, „dass der Anwendungskreis des Baugebots durch das Baulandmobilisierungsgesetz entgegen dessen schon im Namen formulierter Zielsetzung drastisch eingeschränkt ist“, heißt es in der Beschlussvorlage.
Tübingen: Grundsteuer C statt Baugebot
Hinzu kommt: „Mindestens so gravierend ist die Kostenexplosion im Wohnungsbau und bei den Bauzinsen. Es ist heute aus Sicht der Verwaltung nicht mehr gesichert, dass ein neues Wohngebäude kostendeckend vermietet werden kann.“ Damit entfalle „eine unverzichtbare Voraussetzung für den Erlass von Baugeboten, nämlich die wirtschaftliche Zumutbarkeit“.
Daher geht die Stadt nun einen anderen Weg. Die im Dezember 2021 im baden-württembergischen Landtag beschlossene Änderung des Grundsteuergesetzes ermögliche es, eine Grundsteuer C einzuführen. „Die Stadtverwaltung sieht im neuen Instrument der Grundsteuer C eine gute Alternative zum Erlass von Baugeboten, wenn der Hebesatz hoch genug ist, um Anreize für eine zügige Bebauung zu setzen.“ Zudem seien die Verwaltungsverfahren zur Erhebung der Grundsteuer C schlanker als die zur Durchsetzung eines Baugebots.
Info
Andreas Erb ist Redakteur im Public Sector des F.A.Z.-Fachverlags. Für die Plattform #stadtvonmorgen berichtet er über urbane Transformationsprozesse, die Stadtgesellschaft und die internationale Perspektive der Stadt. Seit 1998 ist der Kulturwissenschaftler als Journalist und Autor in verschiedenen Funktionen tätig, seit 2017 als Redakteur im F.A.Z.-Fachverlag.