Die sächsische Stadt Chemnitz ist europäische Kulturhauptstadt 2025. Was bedeutet das für die Stadtgesellschaft und den Städtebau?

Chemnitz, die Ungesehene. Die Verborgene. Eine Stadt, die es zu entdecken lohnt. Mit dem Slogan „C the unseen“ schwingt sich die sächsische Großstadt dazu auf, 2025 europäische Kulturhauptstadt zu sein. Und spricht man das Motto mit dem Buchstaben C, der eigentlich für Chemnitz steht, englisch aus, dann klingt es noch stärker nach einer Aufforderung: „See the unseen“, sehe die Ungesehene, suche das Verborgene, entdecke die Stadt!

Diese Aufforderung richtet sich aber nicht nur an das Publikum der Kulturhauptstadt, sondern auch an die Stadtgesellschaft. Denn die Vorbereitung auf das Veranstaltungsjahr ist für Chemnitz gleichzeitig eine Suche nach sich selbst und nach der eigenen Identität. Sie ist ein mentaler Aufbruch. Der Prozess auf dem Weg ins Kulturhauptstadtjahr soll der Stadt „ein Stück Zukunft über 2025 hinaus“ schaffen, wie Bürgermeister Michael Stötzer im Gespräch mit #stadtvonmorgen sagt.

Eine hoffnungsvolle Perspektive in die Zukunft

Um dem, was damit gemeint ist, näherzukommen, hilft der Blick in die jüngere Vergangenheit. Eine der hervorstechenden Geschichten, die die Bewerbung Chemnitz als Kulturhauptstadt schreibt, dreht sich um Barbara Ludwig. Als 2020 bekanntgegeben wurde, dass Chemnitz Kulturhauptstadt sein soll, war es Ludwigs vorletzter Arbeitstag als Oberbürgermeisterin. Der Zuschlag für Chemnitz eröffnet also nicht nur der Stadt eine hoffnungsvolle Perspektive in die Zukunft, sondern bedeutet auch für die damals scheidende Oberbürgermeisterin eine ersehnte, glückliche Wende im Finale ihrer bewegten Amtszeit.

Die war zu diesem Zeitpunkt nämlich überschattet von rechtsextremen Ausschreitungen, die Chemnitz 2018 erschütterten und die das Bild der Stadt international mit Hass und Hetze in Verbindung brachten. Daraufhin versuchte die Oberbürgermeisterin nach Kräften zu kitten, Gräben zuzuschütten und das Selbstverständnis der Stadt zu justieren. Ludwig trat ein für Demokratie und liberale Werte. Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt steht nicht zuletzt in diesem Zusammenhang: Sie sollte ein Instrument sein, um die Stadtgesellschaft zu mobilisieren und der Stadt einen neuen Fokus zu geben.

Barbara Ludwig jubelt: Chemnitz ist Kulturhauptstadt. (Quelle: Stadt Chemnitz/Kristin Schmidt)

Barbara Ludwig jubelt: Chemnitz ist Kulturhauptstadt. (Quelle: Stadt Chemnitz/Kristin Schmidt)

„C the unseen“: Eine Stadt sucht sich selbst

„Wir wollen zeigen, dass wir so viel mehr sind als die Bilder, die 2018 um die Welt gegangen sind“, sagte Ludwig sichtlich bewegt, als ihre Mühen offensichtlich fruchteten und 2020 das Ergebnis der deutschen Kulturhauptstadt-Wettbewerbsjury pro Chemnitz ausfiel. Die eigene Standortbestimmung und die Suche nach Identität sind es, die die städtischen Vorbereitungen auf das europäische Kulturevent seit dem antreiben. Die Stadt möchte nicht nur gesehen werden, sondern auch sich selbst entdecken. Und sie möchte für den Diskurs über Urbanität zum Vorbild für andere werden. „C the unseen“ eben.

Heute weitet Stötzer, der als Bürgermeister für Stadtentwicklung zuständig ist, den Blick über die Ereignisse von 2018 hinaus: Im vergangenen Jahrhundert habe Chemnitz tiefgreifende Umbrüche erlebt, sagt er. Von der traditionellen Industriestadt wandelte sich Chemnitz in die Moderne. Nach der deutschen Wiedervereinigung veränderten sich Wirtschaft und Gesellschaft in rasantem Tempo. Insofern schlägt Chemnitz als europäische Kulturhauptstadt nicht zuletzt eine Brücke nach Osteuropa, wo sich ähnliche Transformationsprozesse abspielen.

Partizipation als Merkmal der Kulturhauptstadt

In Chemnitz für Stadtentwicklung zuständig: Bürgermeister Michael Stötzer. (Quelle: Stadt Chemnitz/Kristin Schmidt)

In Chemnitz für Stadtentwicklung zuständig: Bürgermeister Michael Stötzer. (Quelle: Stadt Chemnitz/Kristin Schmidt)

All diese Umwälzungen prägen Chemnitz. Auch städtebaulich gibt es den Systembruch mit den Planungsansätzen der DDR. Spricht man mit Stötzer, bekommt man den Eindruck von einer stolzen Stadt, die aber einer Unstetigkeit unterworfen und daher nie richtig bei sich angekommen ist. Und von einer Stadt, die ihre eigene urbane Schönheit und Kraft erst nach und nach erkennt. Der Kulturhauptstadtprozess sei dazu angelegt, eine „Zukunftsvision von Stadt“ zu entwickeln, meint Stötzer. „Als Stadtgesellschaft wollen wir uns darüber bewusst werden, wer wir sind, welches unsere Qualitäten sind und uns in die Zukunft ausrichten.“

Das Kulturhauptstadtprogramm ziele keineswegs nur auf sogenannte Hochkultur ab. Es gehe vielmehr um eine breite gesellschaftliche Partizipation, um die Kultur des Zusammenlebens in einer Stadt, um den Umgang mit Menschen und Natur, um ein Zusammenwachsen in der Region, sagt der Bürgermeister. Die Bevölkerung soll mitmachen.

Die Kulturhauptstadt in der Stadtentwicklung

Dazu gehören städtebauliche Vorhaben. Zwar sei „die Kulturhauptstadt weniger ein bauliches Thema“, wie Stötzer betont. Dennoch sei der Geist des Aufbruchs, der damit verbunden durch Chemnitz zieht, ein wichtiger Treiber der Stadtentwicklung. Räumlich schlägt sich dies auf sogenannten Interventionsflächen nieder. Über die Stadt verteilt gibt es insgesamt 30 solche Interventionsflächen.

Die Bevölkerung war aufgefordert, sich in die Entwicklung ihres Quartiers und in dessen Transformation einzubringen: Wo gibt es Flächen mit Entwicklungsbedarf, welches sind diesbezügliche Gestaltungsideen mit Blick auf 2025? Nach den Ergebnissen dieses Beteiligungsprozesses gestaltet die Stadt nun die Interventionsflächen – als Räume für Kultur und Begegnungen, nachhaltig und resilient. Dies holt auch bislang verborgene und übersehene städtebauliche Schmuckstücke aus dem Dornröschenschlaf: „C the unseen“.

Grüne und blaue Infrastrukturen: Die Kulturhauptstadt ist auch ein Stück Stadtentwicklung für Chemnitz; hier Visualisierung des Stadtteilparks Pleißenbach. (Quelle: Stadt Chemnitz/Station C23)

Grüne und blaue Infrastrukturen: Die Kulturhauptstadt ist auch ein Stück Stadtentwicklung für Chemnitz; hier Visualisierung des Stadtteilparks Pleißenbach. (Quelle: Stadt Chemnitz/Station C23)

Fabrikumbau, Revitalisierung und Renaturierung

Da ist etwa die ehemalige Hartmannfabrik, wo einst Lokomotiven gebaut wurden, und die nun zum Nukleus der Kulturhauptstadt umgebaut wird. Hier entsteht ein „Welcome Center“ für die Gäste der Stadt im Kulturhauptstadtjahr. Da ist die Neugestaltung öffentlicher Plätze, denen eine Bürgerbeteiligung vorausgegangen ist. Oder da ist das Infrastrukturprojekt „Stadt am Fluss“, das ganze Stadtareale entlang des Flusses Chemnitz sowie ein brachliegendes Bahnareal entsiegelt, renaturiert und wiederbelebt. Das Wasser soll im Stadtbild wieder mehr Raum bekommen. Zugleich entstehen Parks und naturnahe Freizeitflächen. Neue Wege verbinden Stadtteile miteinander. Darüber hinaus geht es darum, die grüne und blaue Infrastruktur zu entwickeln und so die Klimaresilienz der Stadt zu steigern.

Insgesamt 30 Millionen Euro stehen für solche baulichen Vorhaben im Kulturhauptstadtetat bereit. Stötzer schätzt, dass die Mittel mithilfe von Fördergeldern auf rund 60 Millionen Euro anwachsen. Das städtebauliche Ziel sei es, für Bürger und Gäste markante Freiräume mit Identifikationskraft zu öffnen, die Stadt erlebbar zu machen. Kurz: „C the unseen“.

a.erb@stadtvonmorgen.de

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